Weckruf:  

Gegen die reduktionistische Einseitigkeit der deutschen Psychotherapie

 

Die unterzeichnenden Professorinnen und Professoren sind in großer Sorge um die Entwicklung der deutschen Psychotherapie.

Als psychotherapeutische Behandlung vor über einem halben Jahrhundert Kassenleistung in Deutsch­land wurde, war diese noch von sehr engen nationalen Vorstellungen bestimmt. Inzwischen sind Psychotherapie wie auch Wissenschaft im Allgemeinen und deren Ergebnisse längst international.

Dieser internationale Stand der Psychotherapieforschung und Praxis betont, dass Psychotherapie anders betrachtet und bewertet werden muss, als dies z.B. für Pharma-Produkte sinnvoll ist. Eine einfache Ursache-Wirkungs-Kausalität gilt in der Psychotherapie nur in Ausnahmefällen. In der Regel ist eine kontextuelle Betrachtungsweise im Rahmen eines bio-psycho-sozialen Ansatzes erforderlich („creative therapists invent a new therapy for each patient“, Norcross & Wampold 2018). ) Die Vielfalt mensch­licher Lebenswelten kann nicht mit einem einzigen Ansatz abgedeckt werden. Daher spiegelt sich überall in der Welt, wo es professionelle Psychotherapie gibt, die Pluralität der Gesellschaften und ihrer Werte, wie auch die Pluralität der Wissenschaftsansätze, in einer Pluralität psychotherapeutischer Grund­orientierungen, mit ihren Sichtweisen, Werten und Erkenntnissen. Die Vielfalt der Zugänge wird von der internationalen Psychotherapieforschung mit einer großen Fülle an wissenschaftlichen Befunden unterstrichen.

In Deutschland wurde hingegen ein System geschaffen, welches das Psychotherapieangebot extrem einseitig auf ein biomedizinisches Funktionsmodell reduziert. Die psychotherapeutische Behandlung von Menschen mit sehr unterschiedlichen Beschwerdebildern und die Vielfalt von klinischen Ver­stehensweisen hinsichtlich ihrer Dynamiken in der Entstehung und Aufrechterhaltung werden auf einfache Ursache-Wirkungs-Prinzipien reduziert und danach die „zugelassenen“ Ansätze selektiert. Die mehr als 50-jährigen Befunde zum bio-psycho-sozialen System werden ebenso missachtet, wie das kontextuelle Modell der Psychotherapie. Selbst die internationalen Standards der „Evidenz­basierten Medizin“ mit ihrem differenzierten Bewertungssystem nach Sacket wurden durch ein deutsches System (sog. „Methodenpapier“) ersetzt. In diesem werden die geforderten evidenzbasierten Abwägungen von Wirksamkeitsstudien weitgehend auf eine einzige Klasse von Forschungsdesigns (sog. „randomisierte kontrollierte Studien“ RCT) reduziert.

Damit wird ein verheerendes Signal an die jüngere Generation gesendet, die im Bereich von Wissen­schaft, Forschung und Psychotherapie aktiv ist: Alles, was dem engen Ansatz der Gatekeeper zuwiderläuft, wird nicht berücksichtigt – nicht einmal diskutiert! Forschung, Lehre und Praxis einer Vielzahl von Ansätzen ist nur noch im Ausland und an den dortigen Universitäten vertreten. Vieles, was international für die Behandlung der Patienten bereitgestellt und weiter erforscht wird – und früher auch an deutschen Universitäten gelehrt und beforscht wurde – ist nun aus der „deutschen Wissenschaft“ im Bereich Psychotherapie administrativ aussortiert worden.

Bereits im März 2006, wurde mit der sog. „Bonner Erklärung“ die Öffentlichkeit auf die drohende Einseitigkeit im System der deutschen Psychotherapie hingewiesen. Dieser Erklärung schlossen sich über 2.500 unterzeichnende Professor:innen und Psychotherapeut:innen an. Darin wurde schon damals die Verengung des Denkens in der Psychotherapie hierzulande problematisiert (einige Passagen stehen in der Endnotei).

Seitdem hat sich die Verengung der Psychotherapie in Deutschland weiter verschärft: Professuren in „Klinischer Psychologie und Psychotherapie“ sind inzwischen fast ausschließlich mit Vertretern der Verhaltenstherapie besetzt. Humanistische Professuren und deren umfangreiche Forschungs­programme wurden völlig verdrängt. Die einst umfassende Psychodynamische Psychotherapie wird heute lediglich von 2 Professuren vertreten. (Wie weit die Vertreter der Systemischen Therapie für etwas Pluralität sorgen können, muss abgewartet werden). Der Vorstand der Bundespsychothera­peuten­kammer – der alle Therapeuten vertreten sollte – ist nun zu 100% mit Verhaltens­therapeut:innen besetzt. Es geht nicht darum, die persönliche Qualifikation dieser „Gatekeeper“ anzuzweifeln; aber extreme Einseitigkeiten sind stets zum Schaden der Betroffenen. Im Bereich der Psychotherapie in Deutschland trifft das die Patient:innen und die Ausbildung von Psychotherapeut:innen.

Gerade angesichts einer durch den Gesetzgeber angestoßenen aktuellen Debatte über Ausbildungs­reformen fordern wir,

  • dass der Wille des Deutschen Psychotherapeutentages (DPT) nach wirklicher Verfahrenspluralität nicht ausgehebelt und umgedeutet wird (Motto: „das erledigt die VT schon alles allein“).

  • dass wirklich der Ansatz der „Evidenzbasierten Medizin“ umgesetzt wird (inklusive qualitativer Ansätze, kontextueller Betrachtungsweisen, Einzelfallforschung – d,h, der Berücksichtigung aller wissenschaftlich erbrachten Wirknachweise, die für oder gegen einen psychotherapeutischen Behandlungsansatz vorliegen) Mit der alleinigen Berufung auf RCT-Studien werden wesentliche Informationen über Prozesse und Wirksamkeit von Psychotherapie ignoriert und unterdrückt. Der Wert der RCT-Studien steht in der internationalen Psychotherapie-Forschung erheblich in Frage, manche sprechen von einer „Ideologie“ (Stiles, Hill, Elliott 2015).

  • dass das bio-psycho-soziale Paradigma – dem internationalen Stand der Wissenschaft entsprechend – in Deutschland nicht weiter ignoriert wird. Die Einseitigkeit der deutschen Psychotherapie-Bewertung wird von international führenden Psychotherapieforschern vehement kritisiert. (z.B. Wampold 2021)ii.

  • dass, als Konsequenz, der besondere Zugang sinnverstehender und kommunikativer Ansätze mit einer angemessenen Methodologie bewertet und nicht länger wegen ihres angeblichen „Mangels an experimentellen Daten“ entwertet und ignoriert wird. Es gibt international starke Argumente für die qualitative Forschung (z.B. Levitt et al. 2023).

  • Dass neben den Vorteilen auch die schweren Probleme manualisierten Vorgehens berücksichtigt werden. Die Forschung zeigt, dass gute Therapeuten, wenn sie nach Manual arbeiten sollen, schlechter werden. Es gibt Kontexte, in denen ein durchgeplantes Interventions­programm sinnvoll ist. Es gibt aber auch viele Behandlungskontexte, in denen die Bedeutung, welche die Patient:innen den „Interventionen“ (oder allgemeiner: dem Geschehen im therapeuti­schen Raum und Rahmen) geben, so relevant sind, dass sie nicht von Manualen vorher­gesagt und standardisiert werden können. Auch diese Komplementarität sollte – dem Stand internationaler Forschung entsprechend – in Deutschland nicht länger ignoriert werden. Die Zukunft der Psychotherapie ist nicht in einer strikten Manualisierung zu sehen.

  • dass somit Patient:innen auch in Deutschland entsprechend dem Stand der internationalen Psycho­therapie­forschung und der (wirklichen) evidenzbasierten Datenlage behandelt werden können. Verbandspolitische Interessen zur Wahrung eines Behandlungsmonopols (und entsprechend dem Monopol in Ausbildung, Forschung und Lehre) müssen hinter dem Interesse der Patient:innen zurückstehen. Der Anschluss an die Diskurse der internatio­nalen klinisch-psychotherapeutischen Wissenschaft sollte wieder ermöglicht werden.

Wir fordern, dass Psychotherapie nicht auf der Basis dogmatischer Vorgaben sondern aufgrund der internationalen Befundlage in ihrer ganzen Breite ermöglicht wird. Denn die Ergebnisse der empirischen Forschung zwingen uns geradezu, für eine praxistaugliche Psychotherapie auf den instrumentell-medizin-technischen Fokus zu verzichten, entsprechende Evaluierungen abzulehnen und alles, was Kontext, Lebenswelt, Person und Sinn (als Grundkategorie) unbeachtet lässt, als fragwürdig und für viele Ansätze als untauglich zurückzuweisen.iii Lehre, Aus- und Weiterbildung in Psychotherapie sollte auch in Deutschland diesen internationalen Stand nicht ignorieren.

Prof. Dr. Dr. Michael B. Buchholz, IPU Berlin / Universität Göttingen

Prof. Dr. Jürgen Kriz, Universität Osnabrück



i aus der Bonner Erklärung von 2006 (https://www.vpp.org/meldungen/06/60319_bonner_erklaerung.html)

  • …Wir beobachten mit großer Sorge in der Psychotherapie eine Verengung des Denkens…

  • …Sinnverstehende, einem humanistischen Menschenbild verpflichtete psychotherapeutische Traditionen haben in dieser Konzeption keinen Platz: Sie sollen inhaltlich, politisch und ökonomisch verdrängt und ausgegrenzt werden….

  • …Psychotherapeutische Verfahren sind nach unserem Verständnis nicht eine Sammlung von Behandlungstechniken, sondern ein System von anthropologischen Grundannahmen, Persönlich­keits- und Störungstheorien, Behandlungs- und Techniktheorien und darauf beruhender Behand­lungspraxis. Das schließt wissenschaftlich begründete Weiterentwicklung und den Austausch zwischen verschiedenen psychotherapeutischen Traditionen ausdrücklich ein…

  • Der Reduzierung der Patienten auf Symptome liegt ein Psychotherapieverständnis zugrunde, das mit dem Selbstverständnis der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten und dem geltenden Psychotherapeutenrecht nicht zu vereinbaren ist. Für die ganzheitliche Sicht des Menschen, für eine ver­lässliche psychotherapeutische Beziehung und für die Entwicklungs­möglichkeiten der Pati­enten bliebe kein Raum. Psychotherapeuten behandeln nicht Symptome, sondern Menschen, die an Symptomen leiden !

  • Die Vielzahl der Lebensentwürfe und die vielfältigen Zugänge zum Verständnis mensch­licher Existenz, die sich in unserer pluralen Wertekultur entfalten, finden ihre notwendige Entsprechung in den unterschiedlichen psychotherapeutischen Grundrichtungen.

ii So betont Wampold (2021), ein führender Pychotherapieforscher: „In this technological effort to make incremental advances by focusing on treatments, or even for treatments for individual patients, the patient and their context are secondary, if not ignored. Lip service is paid to patient preferences and the “psycho” and “social” aspects of the biopsychosocial, but the person as an agentic participant is too frequently ignored.“

iii Siehe z.B. die entsprechende APA-Task Force 
- Norcross & Lambert, 2018, in Psychotherapie 
oder auch Hill & Norcross, 2023, in Psychotherapy Research. 
 https://psycnet.apa.org/fulltext/2018-51673-001.html 
bzw. https://psycnet.apa.org/fulltext/2018-23951-001.html 
oder auch: Buchholz, M.B., Kächele, H. (2019): Verirrungen der bundesdeutschen Diskussion
 – Eine Polemik. Psychotherapeutenjournal 18(2), 156–162



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