Von der “science-fiction” zur “science[1]

Methodologische und methodische Bemerkungen zur Frage der “Wissenschaftlichkeit von Psychotherapie­verfahren”

 

Jürgen Kriz, Universität Osnabrück

 

Prolog

Wissenschaft ist eine Institution der Gesellschaft. Auch wenn von “der Wissenschaft” gesagt wird - mal vor­wurfsvoll, mal stolz - sie finde wesentlich im Elfenbeinturm statt, so kommen selbst Wissenschaftler bisweilen nicht umhin zu konstatieren, daß ihre Elfenbeintürme von brausenden Sturmfluten gesellschaftlicher Kontro­versen umspült werden.

Die gegenwärtige Diskussion um die Frage der Wissenschaftlichkeit von Psychotherapieverfahren - von der dieses Symposium ein Teil ist - findet zweifellos in einer solchen, gesellschaftlich hoch brisanten und kontro­versen, Situation statt. Die begrüßenswerte Tatsache, nach über zwanzigjährigen Beratungen und Verhandlun­gen endlich auch in Deutschland ein Psychotherapiegesetz zu haben, wird überschattet von der Vermengung zu klärender Sachentscheidungen mit einem rücksichtslosen Kampf um die stark reduzierte Ressourcen aufgrund “leerer öffentlicher Kassen” und einem historisch unvergleichlichen Sozialabbau[2]. Auch im Gesundheitswesen sind bereits tausende von Stellen betroffen.

Jede noch so “neutrale” Sachentscheidung stellt somit Weichen und bedroht viele berufliche Existenzen. Es wäre naiv und unredlich, diese Rahmenbedingungen zu verschweigen oder auszublenden. Zu gravierend ist zudem der gegenwärtige Mißbrauch von sogenannten “Kriterien”, “Qualitätsmerkmalen” - ja selbst von Begriffen wie “Wissenschaftlichkeit” - in diesem Ressourcenkampf. So finden beispielsweise durch die Unsicherheiten des Gesetzes und die vergangene Blockadepolitik der KBV unter dem Stichwort “Nachqualifikation” bundesweit skandalöse Praktiken statt, die nur als “Abzocken” bezeichnet werden können: Für Stundenhonorare bis über tausend Mark (also das dreißigfache dessen, was hoch qualifizierte Lehrbeauftragte an Universitäten bekommen) un­terrichten Vertreter von “Richtlinienverfahren” andere, die oft nicht nur weit mehr Berufspraxis haben, sondern selbst im Unterrichtsgegenstand bisweilen über die höhere Sachkenntnis verfügen. Auch wenn dies nicht der Regelfalls sein mag: Selbst solche Absurditäten werden von den Betroffenen gegenwärtig akzeptiert, weil sonst die Verweigerung der Zulassung als Therapeut und damit die Arbeitslosigkeit  droht.

Am Modellfall “Gesprächspsychotherapie”, deren Zulassung als “reguläres” Verfahren durch die KBV über ein Jahrzehnt verschleppt und letztlich abgelehnt wurde, ist darüber hinaus deutlich geworden, wie ein international und national anerkannt wissenschaftlich fundiertes Verfahren, das zudem klinisch erprobt und bewährt ist und in den letzten Jahr­zehnten an über zehntausend Patienten mit Erfolg angewendet wurde, dennoch in diesem Land von Gremien, die “Wissenschaftlichkeit” im Munde führen, mit Verfahrenstricks zum Schaden der Bevölkerung ausgegrenzt wird. Dabei durften sich wissenschafts-ferne Institutionen in diesem Lande ohne Ein­greifen der Aufsichtsbehörde anmaßen, entgegen den Lehrmeinungen der Universitäten ihre Privatdefinitionen von “Wissenschaft” durchzudrücken (bzw. das “Wissenschafts”-Argument für eigene Machtinteressen zu miß­brauchen). Es sei erinnert, daß auch die Verhaltenstherapie seinerzeit nicht etwa durch Einsicht dieser Gre­mien “anerkannt” wurde, sondern nur über den mühsamen juristischen Klageweg - was auch nicht gerade für die Berücksichtigung “der Wissenschaft” durch die jeweils Mächtigen im gesundheitspolitischen Ressourcen-Kampf spricht.

Ich schreibe diese Nachbereitung in Tagen zwischen einem mehrtägigen Aufenthalt in Wien, wo ich eine Gruppe von Psychologen und Ärzten (tlw. bereits mehrjährig in der Psychiatrie tätig) zu Psychotherapeuten (in Österreich selbstverständlich: anerkannten) ausbilde, und einem Aufenthalt in der Schweiz, wo an einer inter­nationalen Sommer-Universität “Expressive-Art”-Therapeuten ausgebildet werden. Dieser Richtung, die hier­zulande nicht einmal den Hauch einer Chance auf “Anerkennung” als “reguläre” Therapiemethode hätte, wurde dort immerhin gerade das Promotionsrecht für einen entsprechenden Studiengang erteilt (wobei die Promo­tionsurkunden ge­meinsam von einer schweizer, einer deutschen und einer amerikanischen Uni - nebenbei: aus dem Elite-Eva­luations-Verbund Harvard-MIT-Lesley - unterzeichnet werden). Dies läßt hoffen, daß jenseits des deutschen Bil­dungsgrenzschutzes, dort also, wo der geistige Würgegriff wortgewaltiger Vertreter von Richtlinienverfahren auf Andersdenkende seine Gren­zen findet, die Vielfalt therapeutischen Lebens und deren Erforschung weiter­hin möglich sein wird. Die derzeitige geistige Selbstbe­schränkung, mit der das deutsche Gesundheitswesen im psy­chosozialen Bereich meint, sich im Alleinbesitz der Wahrheit zu dünken und international eine Son­derrolle spielen zu müssen (z.B. hinsichtlich der Anerkennung der Klientenzentrierten Psy­chotherapie), wird daher wohl nicht ewig gegenüber der Infiltration von Wissen und Ergeb­nis­sen aus anderen Ländern (und viel­leicht der Wissenschaft) immun bleiben. Als Optimist bin ich überzeugt, daß langfristig auch Deutschland wieder den Anschluß an die internationale Wei­te geistiger Fundamente und Lebensformen finden wird und die derzeitige nationale Lokalpos­se (bzw. -tragödie) bis dahin nicht unbegrenzten Schaden - wenn auch leider viel zu viel - anzu­richten vermag. 

Die Unredlichkeit, in der hierzulande über “Wissenschaft” im Zusammenhang mit Psychotherapie diskutiert wird, zeigt sich m.E. auch am Gerangel um die Besetzung des “Wissen­schaft­lichen Beirates Psychotherapie”: Dieses Gremium soll gemäß dem neuen Gesetz u.a. über die “Wis­senschaftlichkeit” von Psychotherapieverfahren entscheiden. Ginge es wirklich primär um Wis­senschaftlichkeit, so könnte man (u.a.) auch danach fragen, wie viele Wissenschaftstheoretiker, wie viele Methodiker etc. einem sol­chen Gremium angehören sollten, wie unterschiedliche wissenschaftstheoretische Positionen in der scientific community in diesem Gremium am besten vertreten sind, etc. etc. - also Aspek­te der Repräsentanz  von Wissenschaft diskutieren. Daß man bei der Besetzung dieses “Wis­sen­­schaftlichen Beirates” m. W. noch nicht einmal ansatzweise solche Aspekte erörtert hat, sondern daß ausschließlich um berufständischen Proporz und optimale Repräsentanz von Verbänden gerangelt wird, belegt allzu deutlich, daß “Wissenschaft” als Pseudoargument und reine Sprachhülse im berufs- und vereinspolitischen Machtkampf fungiert. Zur Klarheit: Ich bemängle nicht, daß ein solcher Ausschuß, wie auch in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens üblich, nach Parteien-Proporz besetzt wird - anderes war realistisch nicht zu erwarten - ich bemängle hingegen die Unredlichkeit, mit der diese Machtinteressen als Fragen von “Wissenschaftlichkeit” kaschiert werden.

 

Grundsätzliche Überlegungen

Kriterien für die Beurteilung der Wissenschaftlichkeit von Psychotherapieverfahren jenseits solcher Machtspiele zu entwickeln, ist aus mei­ner Sicht eine wichtige aber auch außerordentlich schwierige Aufgabe. Denn Psychologie, als Wissenschaft vom menschlichen Erleben und individuellem sowie interaktionellem Verhalten, hat auch in ihrer Teildisziplin, der klinischen Psychologie, mehr zu bieten und höhere Ansprüche, als Praxisevaluation und Effekte-Messung. Die Beurteilung von “Wis­senschaftlichkeit” muß somit grundsätzlicher und weiter angegangen werden, als es in einer auf kurze Schlagzeilen fixierten Mediengesellschaft gefragt sein mag.

Denn offenbar besteht zwischen der Frage, wie ein bestimmter Effekt möglichst wissenschaftlich präzise gemessen werden kann, und der Frage, welche Effekte aus wissenschaftlicher Sicht überhaupt zu erwarten sind und was sie be­deuten, ein großer Unterschied. Solange man beispielsweise davon ausgeht, daß sich die Sonne um die Erde dreht, lassen sich viele wissenschaftliche präzise Registrier- und Meßverfahren ersinnen, um den Weg der Sonne zu beschreiben und sogar um möglichst gute Vorhersagen zu machen. Oder, näher am Thema, die Effekte von Akupunktur sind inzwischen mit wissenschaftlichen Methoden belegt und weitgehend akzep­tiert - aber es fehlt (meines Wissens) jede wissenschaftlich fundierte Theorie, die Akupunktur  ins abendländi­sche Paradigma einzureihen imstande wäre. Die Frage nach der Wissenschaftlichkeit berührt somit auch zentrale Grundlagen- und Grundsatzfragen.

Ich bewundere daher in einigen der Beiträge zu diesem Symposium, wie mutig sie die Grundsatzfragen offen­bar als gelöst oder irrelevant angesehen haben, und zu den Details der Messung, Fragen von Kosten und Nut­zen usw. vorgedrungen sind. Ich stimme fraglos vielen der vorgetragenen Aspekte unter bestimmten Randbe­dingungen zu. Nicht zufällig habe ich rund zehn meiner Bücher und mehr als hundert Beiträge ähnlichen me­thodischen Fragen gewidmet: Ich bin von der Bedeutsamkeit der meisten aufgeworfenen Aspekte überzeugt und weiß die Beiträge zur Lösung und Präzisierung der Fragen durchaus zu schätzen.

Gleichwohl hat das Symposium mein Unbehagen an der Debatte um die Wissenschaftlichkeit von Psychothera­pieverfahren aktualisiert.  Nach Überzeugung der meisten Wissenschaftstheoretiker zeichnet sich Wissenschaft gegenüber Alltagsideologien und Konfessionen insbesondere dadurch aus, daß die stillschweigen­den Vorannahmen und damit die methodologischen und methodischen Voraussetzungen reflektiert und diskutiert werden. Wissenschaft sollte zudem Alternativen in Fragestellung und Vorgehensweisen nicht vermeiden, sondern diese in offensiver Weise möglichst erweitern und (dann!) kritisch diskutieren.

In dieser Hinsicht ist in der Psychotherapieforschung leider ein schweres Defizit an Wissenschaftlichkeit zu beklagen: Bekanntlich ist nicht nur in der Gesellschaft sondern auch in Fachkreisen darüber, was Psycho­therapie überhaupt bewirken soll, welche Veränderungen als wesentlich und welche als peripher oder sekundär erachtet werden - ein­schließlich der Konzepte von  Krankheit und Gesundheit im Spektrum psychotherapeutischer Ansätze - eine große Heterogenität an Vorstellungen zu verzeichnen. Sieht man sich aber die Forschung in jenen Institutionen an, die dafür seit Jahrzehnten von der Gesellschaft erhebli­che Ressourcen zur Verfügung gestellt bekommen haben, so steht der eben betonten Heterogenität der Vorstel­lungen und Werte eine erstaunliche Einseitigkeit der Forschung gegenüber. Ganz massiv bevorzugt wer­den Ansätze (wenn auch aus gutem Grund - s.u.), die sich möglichst nahtlos in die üblichen Designs experimenteller Forschung und die Arbeitsstrukturen universitärer Projekte einfügen lassen. Schlimmer noch: nicht nur die Psychotherapie-Erfolge dieser Richtungen werden von die­ser Perspektive aus bewertet, sondern auch an andere Richtungen mit anderen Zielen und Kri­terien wird in der Debatte nicht selten derselbe Maßstab angelegt, ohne daß die Verletzung der Voraussetzungen hinreichend reflektiert wird.

Die relativ zum beforschten Feld große Einseitigkeit der Forschung ist verständlich, wenn man bedenkt, daß natürlich das Wissenschaftssystem auch in diesem Bereich durch eigene Gesetzmäßig­keiten bestimmt ist, und sich nicht etwa als verlängerter Arm des Gesundheitssystems oder gar von Therapie­schulen versteht. Diese Wissenschaftsstrukturen hängen mit den üblichen Karrieremustern - und diese wiederum mit den Publikations- und Zitiermustern zusammen. Diese Strukturen - und nicht etwa die inhaltlichen Themen - begünstigen bestimmte methodische Zugänge. So würde auch ich einem Doktoranden eher raten, zu einer etablierten Test­batterie zu greifen um im Rahmen üblicher Designs eine klar begrenzte Fragestellung möglichst sauber vor dem Hintergrund der akzeptierten Regeln und Annahmen der scientific community mit signifikanten Ergebnis­sen - und damit leicht publizierbar - durchzuführen. Von einem weitaus komplexeren Ansatz, in dem die In­strumente erst entwickelt werden müssen, völlig neue Wege mit unbekannten Schwierigkeiten und ungewissem Ausgang zu beschreiten wären, der Rahmen üblicher Auswertungsmethoden verlassen werden müßte, mögliche Ergebnisse sehr viel grundlegender diskutiert werden müßten, weil die Bedeutung bestimmter Größen im Ge­gensatz zu den Signifikanzsternen nicht allgemein vorausgesetzt werden kann (was aber allein schon deshalb die Publikationschancen in üblichen Journals erheblich mindert), würde auch ich einem Doktoranden bzw. jemandem, der viele Publikationen in üblichen Journals für seine Karriere braucht, eher abraten.

So liegt beispielsweise die methodisch wichtige Frage, welche Varianz man eigentlich in Relation zu Verände­rung nimmt, um die sog. Effektstärke möglichst biasfrei zu schätzen, eben auf einer anderen Ebene als die Frage, welche Effekte überhaupt theoriekonform als relevant anzusehen und daher zu erfassen wären. Ange­sichts der Schwierigkeit und Heterogenität dieser letzteren Frage liegt es allerdings nahe, sich nur mit der er­steren zu beschäftigen und so zu tun, als sei die letztere gelöst - bzw. durch Wahl einer Standardmethode im­plizite Entscheidungen zu fällen und sich vor der eigentlich inhaltlichen Diskussion zu drücken. Selbstver­ständlich werden aber dadurch bestimmte inhaltliche Fragen vorentschieden bzw. in bestimmter Weise beantwortet, die weniger dem Gegenstand  als der wissenschaftlichen Arbeitsstruktur gerecht werden. Und selbst aus einer rein wissenschaftlichen Perspektive betrachtet ist klar, daß die Häufigkeitsverteilung (und deren Modalwerte) von Forschungsarbeiten keineswegs das widerspiegelt, was als besonders “wichtig” zu erforschen angesehen wird (z.B. was die allgemeinpsychologischen Grundlagen und Wirkungsweisen dessen sind, was Analytiker “Über­tragung” nennen, welche Aspekte beim Psychodrama besonders wichtig und wirksam sind, welche Elemente der Gestaltpsychologie mit welcher therapeutischen Haltung bei welchen Patienten besonders veränderungsrelevant sind, unter welchen Bedingungen “zirkuläre Fragen” ihre höchste Wirksamkeit entfalten, etc. - um einige mir spontan eingefallene, unorthodoxe Fragen zu stellen). Vielmehr wird die Häufigkeitsverteilung natürlich im Hinblick auf die erforderlichen Karrierekriterien von Nutzenerwägungen aufgrund von Input-Output-Analysen (in­ve­stier­te Arbeit - zu erwartende, publizierbare Ergebnisse) wesentlich mitbestimmt. 

Die “tausende von Studien”, die oft als besonderes Qualitätsmerkmal einer bestimmten Therapiemethode pro­pagiert werden, sind weitgehend unter diesen, eben skizzierten, Rahmenbedingungen universitärer Karriere­muster entstanden. Ich will dies nicht kritisieren - dieses System hat seine wissenschaftsimmanente Plausibili­tät. Problematisch aber wird es, wenn man nun die so entstandene methodologische Struktur aus den wissen­schafts-immanenten Kontexten löst und sie als Bewertungs-“Kritierien” einem anderen Gegenstand, dem Psy­chotherapiesystem, überstülpen will. Auch dieses System hat nämlich seine internen Plausibilitäten, in denen beispielsweise das, was als wesentlicher “Effekt” angesehen wird, ansatz- und theoriekonform bestimmt ist - unabhängig davon, ob es sich einfach oder schwer im Rahmen wissenschaftlicher Standardmethoden operatio­nalisieren und überprüfen läßt. Es erscheint mir unredlich, die Spezifität zu leugnen (sei es explizit oder impli­zit, durch Ausrichten allein an Methoden, die bestimmten Ansätzen unangemessen sind).

Noch unredlicher wird es, wenn die karrierebedingten Forschungsdefizite im Wissenschaftssystem von einigen ihrer Vertreter als Vorwürfe an das Therapiesystem gerichtet werden - so als hätten die Therapierichtungen eine Forschungspflicht zu erfüllen und nicht jene, die von der Gesellschaft eben dafür bezahlt wurden. Noch einmal: “tausende Studien” sprechen nicht unbedingt für die Brauchbarkeit von Therapiemethode X im Ge­sundheitssystem sondern für die Brauchbarkeit dieser Methode im Rahmen universitärer Karrieremuster - z.B. für die leichte analytische Zerlegbarkeit in viele einfache Designs. Daher untersucht die ganz überwiegende Mehrheit solcher Studien übrigens auch gar nicht “Therapiemethode X”, sondern spezielle, gut und klar operationalisierbare Aspekte, die mit X verbunden sind, an einem spezifischen Patientenkreis unter spezifischen Bedingungen von spezifischen (und keineswegs für X repräsentativen) Therapeuten durchgeführt, mit (hoffentlich !) für die Forschungsfrage spezifischen Instrumenten und Meßskalen (die dann aber auch nicht gleichzeitig für “den Erfolg” von “X” repräsentativ sein können und sollen).  Somit sind bestenfalls einzelne wenige der “tausenden Studien” für repräsentative Aussagen über X geeignet - indem sie beispielsweise auf eine zumindest repräsentative Auswahl aller X-Therapeuten und eine eben solche Auswahl von Patienten geachtet haben und indem nicht “nur” Detailfragen beantwortet wurden (wie im Rahmen von Wissenschaft üblich), die irgendwie grob mit X zusammenhängen mögen. Auch in dieser Hinsicht werden aber nach meiner Kenntnis die al­lermeisten der Therapiestudien in der gegenwärtigen Debatte mißbraucht, indem sie für eine Allgemeinheit an Aussagen verwendet werden, für die diese Studien niemals angelegt waren.

Wenn somit im Hinblick auf die Beurteilung der Wissenschaftlichkeit von Psychotherapieverfahren auf den üblichen Methodenkanon verwiesen wird, so liegt darin die Gefahr zu starker Einseitigkeit. Nicht selten wird selbst in Fachdebatten die Bedeutung von Methoden unangemessen eingeschätzt. Methoden dienen nämlich vor allem der Standardisierung des wissenschaftlichen Diskurses, der heute selten als realer Disput geführt werden kann und daher mittels der Methoden normiert und vereinfacht ist. Seit in der Wissenschaftstheorie allgemein das Programm als gescheitert angesehen wird, sich auf unabhängig vom Menschen bestehende allgemein gül­tige Fakten und Wahrheiten zu berufen - was die wissenschaftliche Aufklärung lange Zeit (als Ersatz für den göttlichen Willen) als Ziel ansah - muß die Abhängigkeit auch wissenschaftlicher Erkenntnis von der Art des Zugangs, den Fragen, der jeweils bevorzugten Struk­­tur der Diskurse, kurz: der jeweiligen Kultur, akzeptiert werden. Selbst die Physik mußte in diesem Jahrhundert den Menschen als eine nicht eliminierbare Bezugs­größe wieder einführen. Mit Popper, Kuhn und Feyerabend erfolgte schrittweise die Aufgabe der Wahrheit zugunsten intersubjektiver Akzeptanz im Rahmen jeweils gültiger Paradigmen (genauer: disziplinärer Matri­zen). Innerhalb einer disziplinären Matrix repräsentieren Methoden einen “selbst”-ver­ständlichen Teil des Vorgehens innerhalb der “normalen Wissenschaft” (Kuhn). Das bedeutet, es muß nicht immer alles neu ver­ständlich gemacht werden - z.B. darf man von jemandem, der als Fachkollege psychologische Ergebnisse zur Kenntnis nimmt, erwarten, daß er weiß, was eine Korrelation ist, was Signifikanz bedeutet etc.

Die Gefahr solcher Selbstverständlichkeiten liegt aber in einer neu verdinglichten Wahrheit und Objektivität, wobei dann die Paradigmenabhängigkeit vergessen wird. Indem Methoden den konservativen Teil der Wissen­schaft repräsentieren haben sie ein Doppelgesicht: Einerseits bewahren sie die Standards und dienen so der Qualitätskontrolle. Andererseits aber erweisen sie sich als Hemmschuh für neue Wege und alternative Ent­wicklungen.

 

Moderne Wissenschaft und Wissenschafts-Mythen

Gerade für die Erforschung und Beurteilung von Psychotherapieverfahren ergibt sich hier ein sehr wesentliches Problem. Denn bei diesem Gegenstandsbereich kann nicht die strenge, reduktionistische Laborforschung zum Tragen kommen, in der durch geschickte experimentelle Anordnung (oder durch statistische Aufbereitung) fast alle bis auf wenige Variablen kontrolliert werden können. Zumindest solange noch nicht geklonte Therapeuten an geklonten Patienten eine streng manualisierte Vorgehensweise vollstrecken, ist das Modell der  Pharma-Forschung mit beliebig reproduzierbaren reinen Substanzen bzw. Substanzkombinationen eine der vielen irre­führenden Fiktionen (weitere s.u.). Wenn wir aber die gegebene Komplexität akzeptieren, können wir uns nicht den neuen Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften und Mathematik in Hinblick auf solche komplexen Systeme verschließen. Hier hat sich nämlich in den letzten drei Jahrzehnten ein radikaler Wandel im Verständnis des wissenschaftlichen Vorgehens - einschließlich der Grenzen und Möglichkeiten - vollzogen, die viele scheinbar gesicherte Erkenntnisse über “allgemeingültige” Prinzipien wissenschaftlicher Methodik ins Reich der Mythen verbannte.

Leider ist dieser gravierende methodologische und methodische Wandel in den modernen Naturwissenschaften von der Psychologie noch zu wenig zur Kenntnis genommen worden. Obwohl die inhaltlichen Forschungser­gebnisse und -richtungen zunehmend die komplexe Vernetztheit auch des psychologischen Gegenstandsberei­ches - und hier durchaus auch der klinischen Psychologie - untermauern: Sei es die Berücksichtigung der Vernetzung von Neuronal-, Humoral- und Immunsystem, die Beziehungen von kognitiven Bewertungen, Stress und vielen Körperparametern, die Rückkopplungen zwischen individuellen Bewertungsstrukturen und sozialen Interaktionsmustern und so fort.      

Angesichts des Entwicklungsstandes in den Naturwissenschaften gerade im Hinblick auf solche komplexen Systeme ist es bestürzend, wie sich in der klinischen Psychologie noch zahlreiche Vorstellungen halten können, denen zwar die wissenschaftlich Grundlage inzwischen entzogen ist, die aber als wirksame Mythen die Debatte immer noch beherrschen. Ich möchte einige dieser zentralen (teilweise miteinander verwobenen) Mythen kurz aufzählen (wobei ich manche Phänomene hier nur anführe, für die komplizierteren, tlw. mathematischen, Hintergründe muß z.B. auf Kriz 1992 bzw. Kriz 1996/ 97 verwiesen werden):

 

1.) Objektivitäts-Mythos: Dieser wurde bereits kurz angeführt und beinhaltet den Glauben, man könne Fakten und “die Welt” so erkennen, wie sie “wirklich” sind. Statt dessen kommen wir nicht umhin, im Rekurs auf die Gemeinschaft (auch: die scientific community) uns der Verantwortung für unsere Entscheidungen zu stellen. Um es mit Heisenberg zu sagen: “Wenn von einem Naturbild der exakten Naturwissenschaften in unserer Zeit gesprochen werden kann, so handelt es sich eigentlich nicht mehr um ein Bild der Natur, sondern um ein Bild unserer Beziehung zur Natur.” Wir müssen uns somit z.B. der Diskussion stellen, welche Beziehung wir zu Phänomenen wie “Krankheit”, “Gesundheit”, “Heilung”. “Therapie” etc. haben - und können diese Fragen nicht über die Wahl von statistischen Parametern oder Items entscheiden (sondern nach den Entscheidungen dann die Parameter und Items entsprechend entwickeln). Der Anspruch in der Psychotherapie-Debatte, man wolle “objektiv feststellen”, was “tat­säch­lich” wirke, steht jedenfalls im Kontrast zur Bescheidenheit der mo­dernen Physik.

 

2.) Analyse-Mythos: Der Glaube, daß durch analytische Zerlegung, Erforschung der Teile und dann wieder deren synthetische Zusammenfügung, in jedem Fall ein Ganzes untersucht werden kann, hat sich als Trug­schluß erwiesen (und damit auch die unbedingte Suche nach “Wirk­faktoren”). Vielmehr haben Phänomene, wie die Emergenz, gezeigt, daß Systeme wesentliche Eigenschaften aufweisen können, die nicht aus den Teilen erklärbar sind (was z.B. auch schon die Gestaltpsychologie betonte). Nur wenn Teile artifiziell rückkopplungs­frei gehalten werden können, lassen sich diese nicht-linearen Einflüsse vermeiden.

 

3.) Homogenitäts-Mythos: Nicht nur, daß die o.a. Frage “ist Therapierichtung A wirksam..?” einen Pharma-Mythos über die Homogenität therapeutischen Handelns seitens einer bestimmten Richtung “A” voraussetzt; wesentlich neu kam mit der Systemtheorie die Erkenntnis, daß die nicht-linearen Rückkopplungen (typischerweise) zu qualitativen Sprüngen führen können. Das klassische Prinzip “natura non facit saltus” (die Natur mache keine Sprünge), das im Kleinen schon durch die Quantenmechanik widerlegt wurde, hat sich nun allgemein als Trugschluß erwiesen. Ursache-Wirkungs-Verläufe sind damit ebenfalls keineswegs  homogen (größere Ursachen führen keineswegs immer zu größeren Wirkungen). Die “Geschichte” selbst einfacher phy­sikalischer und chemischer Systeme muß wesentlich berücksichtigt werden (was in der Therapie z.B. gegen Manuale sprechen würde).

 

4.) Design-Mythos:Verum et factum conventur” (Wahr sein und Hergestellt sein ist dasselbe - das von VICO 1710 eingeführte Verdict, das über Jahrhunderte das credo abendländischer Wissenschaft war) mußte zugun­sten der Erkenntnis verworfen werden, daß selbstorganisierte Systeme zwar verändert werden können, aber nur entsprechend den inhärenten Strukturmöglichkeiten. Wieder müssen beispielsweise Physiker und Chemiker einfachen, “toten” Systemen mehr typische Eigenart zugestehen, die sich jeder designhaften Veränderung wi­dersetzt, und die es durch Umgebungsbedingungen zu fördern (und nicht “herzustellen”) gilt, als der behaviori­stische Mainstream noch vor kurzem dem Menschen theoretisch zubilligen wollte. Nebenbei: auch in diesem Aspekt liegt nochmals begründet, daß sich Therapeuten “der Richtung A” nicht designhaft ausbilden lassen: Selbst weitgehend sklavisch Manuale vollstreckende Therapeuten wären immer noch Menschen mit spezifi­schen Eigenarten. Und nachdem selbst die VT die Bedeutung der therapeutischen Beziehung betont, kommen hier andere Aspekte mit auf den Plan, die den Therapieverlauf beeinflussen, als es im Manual vorherbestimmbar wäre (jedenfalls ist mit “Beziehung” gerade nicht eine “technische Vollstreckung” thematisiert).

 

5.) Genauigkeits-Mythos: Der Glaube, daß man nur genau genug messen müsse - oder genügend detaillierte Kenntnisse besitzen - um etwas genau vorhersagen zu können, ist tief in der klassischen Wissenschaft verbrei­tet gewesen. Mit dem Homogenitätsmythos zusammen bildete dies die Grundlage des Erfolges der Differential­rechnung in vielen technischen Anwendungsbereichen: Noch so komplizierte Verläufe lassen sich demnach letztlich, bei immer kleiner (ge­nau­er) werden­den Teilstücken durch gradlinige Übergänge annähern. Doch auch diese Ansicht hat sich - in dieser Allgemeinheit - durch die moderne Forschung als Mythos erwiesen: Bei rückgekoppelten Systemen ist mit fraktalen Verläufen zu rechnen - was faktisch bedeutet, daß auch eine immer weiter vorangetriebene Auflösung nur jeweils neue “Kompliziertheiten” zutage fördert. Selbst sehr einfache, von jedem Mittelschüler für wenige Schritte ausrechenbare Gleichungen, können im weiteren Verlauf unberechenbar werden (“determinstisches Chaos”). Auch diese Eigenschaften sind für lebende Systeme eher typisch - d.h. ihre Bedeutsamkeit und Wirksamkeit kann nur über artifizielle Aus­klammerung der Rückkopplungen begrenzt werden.

 

6.)  Kausalitäts-Mythos: Natürlich wollen und sollen Therapeuten (wie auch Systemwissenschaftler) etwa be­wirken - Kausalität ist also nicht einfach “aufgehoben”. Allerdings mußte die klassische Vorstellung von Kau­salität wesentlich modifiziert werden: Wie bereits genannt, können, je nach spezifischer Geschichte des Sy­stems, kleine Ursachen zu großen Wirkungen führen (und umgekehrt), qualitative Sprünge können auftreten und Ordnung muß z.B. nicht dadurch hergestellt werden, daß Ordnung eingeführt wird, sondern daß (recht unspezifische) Umgebungsbedingungen gewährleistet werden, unter denen ein System seine inhärente Ordnung selbst realisiert. “Aufgehoben” ist also das Primat von lokaler Kausalität - die z.B. zur Anwendung kommt, wenn man eine verbeulte Blechbüchse wieder ausbeulen will. Bei einem Wasserfall aber läßt sich eine uner­wünschte Kaskaden-Struktur ebenso wenig lokal  “ausbeu­len”, wie eine Kerzenflamme (im Gegensatz zum Stummel) einem Design in Form eines Osterhasen angepaßt werden kann. Genau dies eben sind die Unter­schiede zwischen dynamischen und statischen Systemstrukturen. Prozesse des Lebens - einschließlich biologi­scher, medizinischer, psychischer und interaktioneller Aspekte - sind aber nur als dynamische Systeme ange­messen zu beschreiben. Die Leitideen von Blechbüchsen-Interventionen als Reparatur einer Krankheit lassen sich nur unter extrem restringierten Bedingungen verwirklichen.

 

Es gibt noch einige weitere überkommene Vorstellungen über das, was “wissenschaftlich” heißt - Vorstellun­gen, die zwar die Debatte um die Psychotherapieverfahren mit dem Anspruch von “naturwissenschaftlichen” Ideale durchgeistern, die aber von den heutigen Naturwissenschaftlern und Wissenschaftstheoretikern längst revidiert worden sind. Bereits aus den aufgeführten Aspekten aber folgt, daß wir methodisch wie methodolo­gisch sehr viel vorsichtiger in den Aussagen über Ergebnisse und Effekte sein müssen, als es manche vollmun­dige Behauptungen mit Verweis auf gesammelte Signifikanzsterne wahrhaben wollen.

Ich weiß, daß manche Gesundheitspolitiker und Vertreter der Krankenkassen uns zu einfachen Antworten auf ihre Fragen drängen. Es scheint am Zeitgeist zu liegen, daß angesichts einer immer komplexer werdenden Welt besonders die reduktionistischen, klaren, ohne von Bedenklichkeiten eingeschränkten Wahrheiten und Lösungen gesucht werden. Ob etwas “so oder aber so ist”, muß demnach “ohne wenn und aber” entschieden werden. Ver­sucht man hingegen, der Komplexität nur etwas gerechter zu werden indem man beginnt, differenzierend  zu erklären, “das hängt davon ab, wie...”, so steht man schon im Geruch, nicht “genügend zu wissen” um die Frage “ein für allemal endgültig klar zu beantworten.”  So wenig, wie die Physiker dazu gedrängt werden können, nun end­lich einmal klar zu entscheiden, ob Licht denn nun “wirklich Welle oder Teilchen ist”, sollten wir uns drängen lassen zu entscheiden, ob Verhaltenstherapie nun wirklich besser als Gesprächspsychotherapie ist (selbst wenn es reale Therapeuten geben sollte, die als “die” Repräsentanten “der” Verhaltenstherapie bzw. “der” Gespräch­spsycho­therapie anzusehen wären). Vielmehr sollten auch wir uns damit begnügen, daß je nach den Umständen unterschiedliche Therapeuten unterschiedlich vorgehen werden - Umstände, zu denen die Geschichte, ein­schließlich der Vorlieben und Befürchtungen, der Patienten, deren soziale, kulturelle, materielle und berufliche Eingebundenheiten, die bisherige Krankheitsentwicklung, die Persönlichkeit und Geschichte mit den spezifi­schen Vorlieben, Fähigkeiten und persönlichen Grenzen des Therapeuten gehören (um nur wenige Aspekte zu nennen). Worum es eher gehen sollte, ist, wie sicher gestellt werden kann, daß diese unterschiedlichen Thera­peuten in unterschiedlichen Richtungen jeweils eine gute Ausbildung haben, die ihnen verantwortliches und kompetentes Handeln ermöglicht.

Nimmt man beispielsweise einige der o.a. Aspekte, so wird man finden, daß die Berücksichtigung dieser Prin­zipien moderner naturwissenschaftlicher Erkenntnis recht typisch ist für das, was humanistische Psychologie - also z.B. Gestalt- und Gesprächspsychotherapie - wesentlich ausmacht. Es sei gleichzeitig daran erinnert, daß noch vor nicht allzu langer Zeit diese Prinzipien moderner naturwissenschaftlicher Erkenntnis von manchem Psychologen als “schwärme­risch” belächelt und als eher “unwissenschaftlich” diffamiert wurden. Auch die Gesprächspsychotherapie wird heute im Kreise der kompetenten Wissenschaftler im Bereich klinischer Psy­chologie und Psychotherapie zwar als wissenschaftlich fundiert angesehen - aber leider nicht etwa deshalb, weil sie diese Prinzipien in hohem Maße umsetzt und sehr differenzierte Konzepte dazu entwickelt hat, sonder vor allem deshalb, weil sie zusätzlich auch noch mit den klassischen Methoden genügend Signifkanzsterne zu­sammengesammelt hat (und selbst diesen Kenntnisstand können berufspolitische Hardliner der KBV und von ihnen erwählte “Gutachter” immer noch ausblenden).  Diese Prinzipien, die u.a. aber auch für die systemische und Familien-Therapie typisch sind, habe ich kürzlich (Kriz 1998a) in einer Tabelle zusammengefaßt und den von Metzger 1962 resümierten Prinzipien humanistischer Psychotherapie gegenübergestellt, die hier nochmals aufgeführt sei (vgl. Tabelle).

Es ist allerdings ein Problem, daß Psychotherapien, die eher solchen systemtheoretischen Konzepten folgen - wie z.B. die Gesprächspsychotherapie oder die Familientherapie - gemessen am Alltagsverständnis, keine “einfachen” Konzepte sind. Ich habe kürzlich (Kriz 1998b) in anderem Zusammenhang auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die sich unserer Sprach- und Denkstruktur angesichts vieler wesentlicher Erkenntnisse dieses Jahrhunderts stellen: Typisch für eine systemische Betrachtungsweise ist nämlich im Wesentlichen prozeßhaftes Geschehen statt verdinglichter Objekte, Rück­kopplung und Nicht-Linearität in diesen Prozeßverläufen sowie ein nicht-lokales Verständnis von Kausalität. Unsere abendländische Sprache (genauer: SAE, d.h. standard average european) ist hingegen typisch verdinglicht und a-prozessual, bringt somit Objekte und Relationen zwischen ihnen ”zur Sprache”, und vermittelt lokale Kausalitäten -und dies liegt eben auch den Metaphern zugrunde, mit denen wir wesentlich die Welt begreifen. Die “Absurditäten”, “Widersprüche”, “Ungereimtheiten” moderner Physik lassen sich daher eben nicht angemessen in üblicher Sprache vermitteln sondern nur durch abstrakte mathematische Formalismen - vor deren Beurteilung sich Laien ehrfurchtsvoll zurückhalten.

 

W. METZGERs  “Kennzeichen..”

 

Prinzipien naturwiss. Systemtheorie

 

1. Nicht-Beliebigkeit der Form:

Man kann Lebendigem “auf die Dauer nichts ge­gen seine Natur aufzwingen”, man “kann nur zur Entfaltung bringen, was schon in dem “Material” selbst an Möglichkeiten angelegt ist”

 

 

Man kann einem System nicht jede beliebige Form auf­zwingen, sondern nur dem System inhärente Organisationsformen fördern

2. Gestaltung aus inneren Kräften:

”Die Kräfte und An­triebe, die die angestrebte Form verwirklichen, haben wesentlich in dem betreuten Wesen selbst ihren Ur­sprung

 

 

Die entscheidenden Größen der Ordnung - sog. “Ord­nungsparameter” - haben wesentlich ihren Ursprung im System selbst

3. Nicht-Beliebigkeit der Arbeitszeiten:

Das lebende We­sen kann nicht beliebig auf seine Pflege warten ... Es hat vor allem seine eigenen fruchtbaren Zeiten und Augenblicke für Verände­rung..

 

 

Systeme haben eine “Geschichte” - relativ zu die­ser  bewirken “dieselben” Interventionen mal fast nicht in anderen Phasen qualitative Sprünge

4. Nicht-Beliebigkeit der Arbeits­geschwindigkeit:

Prozesse des Wachsens, Reifens, Überstehens einer Krankheit usw. haben offenbar ihnen jeweils eigentüm­liche Ablaufgeschwindigkeiten...

 

 

Phasenübergänge - das was von außen als we­sent­liche/qualitative Änderung der Struktur-Dyna­mik wahrgenommen wird - haben system-inhären­te (”eigentümliche”) Verläufe

5. Die Duldung von Umwegen:

man muß überall Um­wege in Kauf nehmen

 

 

Die Entwicklungswege müssen respektiert werden (z.B. kann der Weg durch Bifurkationen nicht “ab­ge­kürzt” werden)

6. Die Wechselseitigkeit des Gesche­hens:

”Das Gesche­hen ... ist wechselseitig. Es ist im ausgeprägten Fall ein Umgang mit “Partnern des Lebens” ...

 

Systeme sind nicht nur durch wechselseitige Ver­knüpfung der “Elemente”/Teildynamiken aus­ge­zeich­net, sondern auch die Trennung System / Umwelt ist rein analytisch-formal - (jede Sepa­rierung und Aus­schluß holistischer Wechsel­wir­kungen ist eine (ggf. notwendige) Ver­ein­fachung.

 

 Im Bereich der klinischen Psychologie und Psychotherapie sind allerdings solche Formalismen in hohem Maße unüblich. Wie sollen aber z.B. einem Krankenkassenvertreter, der sich auf seinen “gesunden Menschenverstand” beruft, vermittelt werden, daß manche Therapiekonzepte auch dann (oder: gerade dann) “wissenschaftlich fundiert” und hoch “wirksam” sein können, wenn sie den üblichen Ursache-Wirkungs-Prinzipien, Aufteilung in abhängige und unabhängige Variablen etc. nicht in jedem Fall folgen. Am Beispiel der Gesprächspsychotherapie hat sich leider gezeigt, daß tausende erfolgreich behandelter Patienten (was sich ja anhand der Krankenakten verifizieren läßt) sowie viele auch mit “klassischen” Designs erbrachte Wirksamkeitsstudien manche Kassenvertreter in ihrer Skepsis gegenüber einem so komplexen Konzept wie der “Aktualisierungstendenz” nicht überzeugen konnte. Da das Wissen aus der interdisziplinären Systemforschung nur ganz langsam in die Allgemeinbildung diffundiert, wird dieses Sprach- und Denk- (und Metaphern-)Problem noch eine erhebliche Zeit grundsätzlich bestehen bleiben - auch wenn erfreulicherweise mit dem neuen Gesetz endlich nur Wissenschaftler über “die Wissenschaftlichkeit” befinden werden.

 

Konsequenzen

Wenn wir also endlich aufhören, bei der Frage nach der Wissenschaftlichkeit von Psychotherapieverfahren eine überkommene Fiktion von Wissenschaft als Maßstab zu setzen, sondern uns statt dessen an den modernen Naturwissenschaften, der interdisziplinären Systemforschung und der Wissenschaftstheorie orientieren wollen, so müssen wir anerkennen, daß die klassischen Methoden mit ihren bestimmten lokalen Kausalitätsbeziehun­gen, linearen Wirkungsvorstellungen, Homogenitätsannahmen, lokaler Prognostik etc. nur einen Aspekt von Wissenschaft abbilden.

Der mutige Schritt von Seligman in den USA, mit seiner Consumer-Report-Studie den Aspekt der Labor-Wirksmakeit (efficacy) durch den Aspekt der klinischen Brauchbarkeit und Bewährtheit (effectiveness) zu bereichern - ja hier sogar die Gewichte deutlich zu verschieben - sollte auch in Deutschland nachvollzogen werden. Ich weiß nicht, ob und wie schnell wir an die nötigen Daten kommen -  der Datenschutz wird hierzu­lande ja sehr ernst genommen, wofür wir eben auch Preise zu zahlen haben. Wir können aber schon jetzt un­sere Verantwortung als klinische Professoren ernster nehmen und uns nicht allein von statistischen Maßzahlen aus artifiziellen Untersuchungen leiten lassen.

Wenn wir unter “wissenschaftlich” auch verstehen,

- mit wesentlichen Theorien eines Faches in Einklang stehen

- von der scientific community akzeptiert

- bestimmte, fachspezifische aber auch ansatzspezifische Kriterien zu erfüllen,

dann brauchen wir uns nicht allein auf sog. “objektive” Daten - mit allen aufgezeigten Problemen - berufen. Vielmehr gibt es auch Therapieansätze, die seit vielen Jahren klinisch gut erprobt sind - hier müßten wir nur die ent­sprechenden Klinikchefs befragen bzw. wie beim Consumer-Report auch solche Daten erheben und zulassen. Langfristig sollten wir als Wissenschaftler schon das Ziel (weiter) verfolgen, durch Ausarbeitung einer möglichst umfassenden Psychotherapie-Theorie unter Einbeziehung all dessen, was unsere Wissenschaft vom Erleben und Verhalten zu bieten hat (und einige Nachbarwissenschaften), einerseits bei möglichst vielen der praktisch vorfindlichen Therapiemethoden klar wissenschaftlich rekonstruieren und begründen zu können warum wann was wie wirkt bzw. warum (und wann etc.) etwas nicht so wirkt, wie behauptet. Bis wir diesem Ziel aber einen bedeutsamen Schritt nähergekommen sind, ist es gegenwärtig redlich zu akzeptieren, daß therapeutische Handlungskompetenz sich historisch in heterogenen Schulen entwickelt hat - bei denen viele Gründer und spätere Mitarbeiter allerdings keineswegs, wie oft abfällig in der öffentlichen Polemik suggeriert, idiosynkratisch-sektenhafte Eigenbrödler mit rational nicht begründbaren Vorlieben waren, sondern durchaus gut ins Wissenschaftssystem integrierte Forscher, oft mit Professorenrang, deren Vorstellungen klar und explizit im wissenschaftlichen Fachdiskurs teilhatten und teilhaben, und das heutige Spektrum wissenschaftlicher Kenntnisse der klinischen Psychologie wesentlich bereichert haben.

Eine weitere Entscheidungsgrundlage wäre, ein fundiertes Delphi-Verfahren in Gang zu setzen, bei dem eine Erhebung bei den Fachprofessoren (denn diese definieren letztlich, was Wissenschaft ist !) erfolgt, deren Er­gebnisse in mehreren Schritten rückzumelden und zu revidieren ist. Dabei müssen dann z.B. die Abweichungen von den Modalwerten der Rückmeldungen in den nächsten Schritten von jenen sorgsam begründet werden, die bei dieser Abweichung bleiben wollen. Durch ein solches Vorgehen würden wir dokumentieren, daß wir unsere Entscheidungs­kompetenz und -befugnis ernst nehmen, und diese nicht allein an mechanisierte Auswahlprozeduren delegieren, die nicht selten aufgrund wissenschaftstheoretisch überholter Methoden mit ansatz-spezifischem Bias be­haftet sind.

Ich bin ganz sicher, daß wenn wir unseren eigenen Sachverstand, unsere Lehrbücher, das, was wir unterrichten und die Vielfalt der mit unterschiedlichen Methoden erbrachten Ergebnisse wirklich ernst nehmen, ein breiter Konsens gefunden werden kann, in dem sich dann weit mehr als nur die beiden Richtlinienverfahren als wis­senschaftlich fundiert und klinisch erprobt herausstellen. Es ist vielleicht auch nicht verboten, die Erfahrungen aus Nachbarländern mit einzubeziehen und nicht der weiteren Fiktion zu unterliegen, an den nationalstaatli­chen Grenzen Deutschlands höre der Sachverstand und die Wissenschaft auf. Die Ignoranz gegenüber Erfahrungen und Ergebnissen anderer Wissenschaftler als derjenigen des derzeitigen deutschen Mainstreams wäre jedenfalls kein Beleg für “Wissenschaftlichkeit”.   

 

 

 

Literatur

KRIZ, J. (1992): Chaos und Struktur. Systemtheorie Bd 1. München, Berlin: Quintessenz

KRIZ, J. (1996a): Grundfragen der Forschungs- und Wissenschaftsmethodik. In: Hutterer-Krisch, R. et.al.: Psychotherapie als Wissenschaft - Fragen der Ethik, Bd. 5 der "Serie Psychotherapie" (Hrsg.: G. Sonneck), Wien: Facultas, 15-160

KRIZ, J. (1996b): Zum Verhältnis von Forschung und Praxis in der Psychotherapie. Psychotherapie Forum, 4, 163-168  (Nachdruck in: systhema, 11, 1, 42-50, 1997 und in: Existenzanalyse, 15, 1, 33-37, 1998)

KRIZ, J. (1997a): Fragen und Probleme der Wirksamkeit von Psychotherapie. Gestalt Theory, 19, 51-61

KRIZ, J. (1997b): Systemtheorie. Eine Einführung für Psychotherapeuten, Psychologen und Mediziner. Wien: Facultas (2. Aufl. 1998)

KRIZ, J. (1998a): Die Effektivität des Menschlichen . Argumente aus einer systemischen Perspektive. Gestalt Theory, 20, 131-142 (Abdruck auch in: bdp (Hrsg): Reader, 3. Landes-Psychologinnen-Tag Schleswig-Holstein "Zwischen Effektivität und Menschlichkeit - Fragen an die Psychologie")

KRIZ, J. (1998b): Über die Schwierigkeit, systemisch zu narrativieren. System Familie, 11, Heft 3 (im Druck)

METZGER, W. (1962): Schöpferische Freiheit. Frankfurt: Waldemar Kramer



[1] Nachschrift eines Vortrags zum AGPT-Symposium zur “Wissenschaftlichkeit von Psychotherapieverfahren” vom 7. Mai 1998, Köln. Soll zusammen mit den anderen Vorträgen im DGVT-Verlag erscheinen. Nachtrag: erschien in Report Psychologie, 24, S. 21 – 30,  1999

[2] Trotz explo­dierender Unternehmensgewinne, trotz wöchentlich wiederkehrender Rekordmeldungen des Deutschen Akti­enindexes (DAX), findet über den Hebel der Arbeitslosigkeit ein Aderlaß der öffentlichen Haushalte statt, in dem Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden.