Stellungnahme der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP)

zur gutachtlichen Praxis des Wissenschaftlichen Beirates (§ 11 Psychotherapeutengesetz)

 

Ende September 1999 hat der Wissenschaftliche Beirat, der im Rahmen des PsychThG gutachtliche Empfehlungen hinsichtlich der "wissenschaftlichen Anerkennung" psychotherapeutischer Verfahren an die Länderbehörden, die Kassen und andere Institutionen geben soll, zum ersten Mal Stellungnahmen formuliert, und zwar hinsichtlich der Gesprächspsychotherapie und der Familientherapie.

Die Empfehlungen an die Länderbehörden hatten zum Inhalt, dass die Familientherapie in gar keiner Weise als "wissenschaftlich anerkanntes Verfahren" und die Gesprächspsychotherapie mindestens in drei Indikations- bzw. Anwendungsbereichen als "wissenschaftlich anerkannt" gilt, jedoch mit der Konsequenz, dass beide Psychotherapieverfahren nach Ansicht des Wissenschaftlichen Beirates nicht als vertieftes Verfahren der staatlich anerkannten Ausbildung nach der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung (APrVO) in Frage kommen. Das haben aufgrund dieser Empfehlungen die Länderbehörden am 9.11.99 auch entsprechend beschlossen.

Diese Vorgehensweise des Wissenschaftlichen Beirates stellt einen wissenschaftspolitischen Skandal dar und veranlasst die Neue Gesellschaft für Psychologie (NGfP), in der u.a. viele Hochschullehrer für Psychologie versammelt sind, zu folgender Stellungnahme. Dabei richtet die NGfP ihren Blick nicht auf den wissenschaftlichen Status der einzelnen Psychotherapieverfahren, sondern auf die Inhalte sowie die Art und Weise, wie der Wissenschaftliche Beirat seine "Wissenschaftlichkeits-Kriterien" formuliert und angewendet hat.

 

1. Der Wissenschaftliche Beirat nimmt eine unzulässige Reduzierung der Wissenschaftlichkeit auf kontrollierte und randomisierte Psychotherapiestudien vor.

Das Vorgehen, prinzipiell nur Psychotherapiestudien anzuerkennen, die sich einer reduktionistischen Labor-Wirksamkeit (efficacy) beugen, übernimmt unreflektiert methodische Standards (angeblicher Objektivität, Homogenität, Genauigkeit, Kausalität etc.) einer gegenstandsunangemessenen wissenschaftlichen Forschung in der Psychologie. Diese Methodologie erfordert letztlich nach Zufallsprinzipien ausgewählte standardisierte Psychotherapeuten, die an ebensolche standardisierte Patienten streng manualisierte Psychotherapietechniken wie Medikamente verabreichen. Sie kann allenfalls für die Pharmaforschung taugen, jedoch niemals für die Psychotherapie.

 

2. Das Wissenschaftsverständnis des Wissenschaftlichen Beirates ist durch mangelhafte Praxisrelevanz in der Psychotherapie gekennzeichnet.

Die vom Beirat formulierten Kriterien von "Wissenschaftlichkeit" orientieren sich in keiner Weise an dem letztlich entscheidenden Kriterium der praktischen Brauchbarkeit von Psychotherapieverfahren in unserem Gesundheitssystem. Statt dessen unterwirft der wissenschaftliche Beirat die lebendige und erfolgreiche Praxis des psychotherapeutischen Alltags den Kriterien und Karrieremustern der mittlerweile von jeder Form gesellschaftlicher Praxis abgeschotteten Realität des Elfenbeinturms universitärer wissenschaftlicher Forschung.

Entscheidend für eine Beurteilung von Psychotherapieverfahren ist demgegenüber das Kriterium der "ökologischen Validität": Klinische Brauchbarkeit und Bewährtheit (effectiveness) als Prüfsteine sind viel bedeutsamer und gegenstandsangemessener für die Psychotherapie als deren Taylorisierung mittels wenig ergiebiger Detailforschung. Der Kardinalfehler kontrollierter und randomisierter Psychotherapiestudien besteht genau darin, dass die Bedingungen psychotherapeutischer Praxis bis zur Unkenntlichkeit verändert werden. Pointiert formuliert: "Psychotherapie in kontrollierten Studien ist im Extremfall als Karikatur von Psychotherapie anzusehen und läßt an das bei Amateuren beliebte Malen oder Sticken nach Zahlenvorlagen denken. Aus solchen Studien Schlüsse für die Praxis ableiten zu wollen, ist in hohem Maße unwissenschaftlich, auch wenn diese Studien ganzen Heerscharen von Forschern Drittmittel und wissenschaftliche Karrieren bescheren. Zu Recht schätzen Praktiker die Ergebnisse dieser Studien für ihre Arbeit als völlig irrelevant ein" (Prof. Dr. Dr. Heiner Legewie, TU-Berlin, Vortragsmanuskript 1999).

 


3. Der Wissenschaftliche Beirat beseitigt faktisch mit seinem einheitswissenschaftlichen Denkansatz die weithin akzeptierte Vielfalt wissenschaftlichen Denkens und psychotherapeutischen Handelns in der deutschen Psychotherapielandschaft.

Folge der charakterisierten methodologischen Voreingenommenheiten, die nur numerische und keine sprachlich vermittelten Daten zulassen, ist, dass die Vielfalt der Psychotherapieverfahren so reduziert wird, dass zukünftig nur noch verhaltensnahe bzw. verhaltensmedizinische Verfahren zum Zuge kommen. Unterstellt wird dabei ein Einheitspatient, der mit Einheitsmethoden behandelt werden soll. Diese Vorgehensweise widerspricht nicht nur der Pluralität wissenschaftlicher Traditionen in der Psychotherapie, sondern auch dem Selbstbestimmungsrecht der Patienten. Da es nicht zulässig ist, Psychotherapie mit der Verabreichung von Medikamenten gleichzusetzen, muß jeder Patient die Möglichkeit haben, für sich dasjenige Psychotherapieverfahren auszuwählen, das im Rahmen unterschiedlicher wissenschaftlicher Legitimierungen ihm selbst als zuträglich erscheint. Nichts wäre gefährlicher, als dass Psychotherapieverfahren, die sich ausschließlich an der somatischen Medizin orientieren, die Alleinherrschaft auf dem Psychotherapiemarkt eroberten. Das hätte kompensatorisch eine unkontrollierbare Wucherung wissenschaftlich höchst fragwürdiger esoterischer Psychotherapie-Zirkel zur Folge. Denn die Durchsetzung einseitiger rationalistischer Denk- und Handlungsmodelle in der Psychotherapie würde das Gefühlsleben der Menschen in irrationalistische Sperrbezirke verweisen.

Dass demgegenüber eine Vielfalt von Psychotherapieverfahren wissenschaftlich anerkannt und gesetzlich geregelt sein kann, ohne dass dies gleich zu einem unkontrollierbaren Wildwuchs an psychotherapeutischen Verfahren führte, zeigt ein kurzer Blick über die Grenzen ins nahe Ausland, z.B. nach Österreich und den Niederlanden.

4. Die ausschließliche Besetzung des Wissenschaftlichen Beirates mit Vertretern der Richtlinienverfahren (Psychoanalyse/Verhaltenstherapie) dient nicht der erforderlichen Orientierung an der Wissenschaftlichkeit.

Die Durchsetzung des einheitswissenschaftlichen Denkansatzes im Wissenschaftlichen Beirat kann bei Insidern nur Erstaunen hervorrufen, sind doch im Beirat auch ärztliche wie psychologische Vertreter der Psychoanalyse vorhanden, deren Wissenschaftsauffassung sich bekanntermaßen erheblich von der der Verhaltentherapeuten unterscheidet. Es kann aus wissenschaftlicher Sicht die begründete Prognose gewagt werden, dass die psychoanalytisch begründeten Verfahren nach den jetzt geltenden Kriterien keine Chance auf "wissenschaftliche Anerkennung" finden würden, falls ein Antrag auf Überprüfung durch ein Bundesland an den Beirat gestellt würde. Dies wirft weitere Fragen nach den Entscheidungsgründen des Wissenschaftlichen Beirates auf. Da der Beirat bei seiner Konstituierung nicht streng nach wissenschaftlichen Überlegungen, sondern nach Proporzdenken der Richtlinienverfahren besetzt wurde, liegt zumindest die Vermutung nahe, dass kein großes Interesse an weiteren zuzulassenden Psychotherapieverfahren besteht. Angesichts der aktuellen Auseinandersetzungen um dramatisch sinkende Punktwerte bei den Kassenärztlichen Vereinigungen fällt es nicht schwer, die Gründe für dieses "wissenschaftlich" legitimierte Ausschlussverhalten zu erahnen.

Des weiteren ist hinsichtlich der Besetzung des Wissenschaftlichen Beirates festzustellen, dass er zu 50% aus ärztlich-psychotherapeutischen Vertretern besteht, aber die Beschlüsse des Beirates nur für die psychologischen Psychotherapeuten bindend sind. Die ärztlichen Psychotherapeuten entscheiden souverän im Rahmen der Landesärztekammern und sind hinsichtlich ihrer Psychotherapieverfahren sowohl approbations-, als auch sozialrechtlich nicht an die Wissenschaftlichkeitskriterien des Beirates gebunden. Diese höchst ungewöhnliche Konstruktion, dass ein Berufsstand einem anderen Berufsstand Kriterien oktroyieren kann, an die er sich selbst nicht halten muß, kann nur mit Befremden zur Kenntnis genommen werden. Es darf nach aller Erfahrung gemutmaßt werden, dass die ärztlichen Vertreter der Richtlinienverfahren ohnehin wenig Interesse an der Aufnahme weiterer Psychologinnen und Psychologen in das kassenärztliche Versorgungssystem haben.

5. Folgerungen und Forderungen der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP)

Angesichts der unübersehbaren Mängel, die sowohl im reduzierten einheitswissenschaftlichen Denkansatz als auch in der gesamten Konstruktion des Wissenschaftlichen Beirates begründet sind, fordert die NGfP die Landesbehörden auf, die Empfehlungen des Wissenschaftlichen Beirates zurückzuweisen.
Wir fordern des weiteren den Gesetzgeber auf, im Rahmen einer Novellierung des PsychThG einen Beirat zu etablieren, der den Namen "wissenschaftlich" auch verdient.

Erlangen, 19.12.99

gez. Prof. Dr. Hans-Jürgen Seel 

(1. Vorsitzender der NGfP)