Quelle: Kriz, Jürgen (1998): Die Effektivität des Menschlichen . Argumente aus einer systemischen Perspektive. Gestalt Theory, 20, 131-142 (Abdruck auch in: bdp (Hrsg): Reader, 3. Landes-Psychologinnen-Tag Schleswig-Holstein "Zwischen Effektivität und Menschlichkeit - Fragen an die Psychologie", Nachdruck in: systhema, 12, 3, 277 - 288 )

DIE EFFEKTIVITÄT DES MENSCHLICHEN

- Argumente aus einer systemischen Perspektive

Jürgen Kriz

Die Vorbereitungsgruppe dieses 3. Landes-PsychologInnen-Tages des BDP hat in dem vorliegenden Programm-Folder kurz aber prägnant - und m.E. auch sehr zutreffend - den gegenwärtigen Zeitgeist skizziert, nämlich:

"Unsere Wachstumsgesellschaft ist geprägt vom Streben nach Effektivität und Effizienz. Ziele sollen in möglichst kurzer Zeit und mit einem Mindestaufwand an Energie und Einsatz erreicht werden. Dahinter steht die Absicht, Kosten zu minimieren bzw. Gewinne zu erhöhen. Soziale Fähigkeiten und Fertigkeiten, Sensibilität für sich und andere bleiben dabei häufig auf der Strecke...

In der Tat: das ökonomistisches Primat der Gewinnmaximierung bringt auch die Psychologen und die Psychologie in eine problematische Situation. Denn mit dem Fokus allein auf Effektivität - dazu noch, wie ich zeigen werde, mit einer sehr ein-seitigen Deutung von Effektivität - geraten viele PsychologInnen in Bedrängnis, sich den scheinbaren "Sachzwängen” anzupassen; Sachzwänge, die Menschlichkeit, Sensibilität, Begegnungshaltung und andere Qualitäten, die vielleicht einmal für die Wahl des Psychologen- oder gar Therapeuten-Berufs wesentlich waren, als nicht mehr vertretbaren Luxus erscheinen lassen, für den man sich als "ineffektiv” (oft noch gleichgesetzt mit unter-qualifiziert) schämen muß (oder sich zumindest "nachqualifizieren” muß, wie eine neudeutsche Vokabel heißt).

Dieser Zwang zur Effektivität wird dann auch an die Psychologie als Wissenschaft weitergegeben - als Forderung, sich primär solchen Fragen zuzuwenden. Man kann dies z.B. im der gegenwärtigen Debatte im Schatten des Psychotherapie-Gesetzes in Deutschland beobachten: Die Frage danach, welche Psychotherapie in welchem Ausmaß die Sozialgemeinschaft bezahlen soll, ist fraglos wichtig und bedarf einer sorgfältigen Erörterung (weit sorgfältiger übrigens, als sie im Windschatten egoistischer Interessen von Machtgrüppchen tatsächlich erfolgt ist). Aber durch die Fixierung fast allein auf diese Frage erscheinen Programme, die z.B. menschliche Entwicklung, Individuation, oder dergleichen, ökonomistischisch "Unproduktives”, fördern wollen, geradezu diskreditiert zu sein (auch dann, wenn ohnedies niemand erwartet, daß dies die Sozialgemeinschaft bezahlen soll). Der große und weite Katalog jener Fähigkeiten und Leistungen in bezug auf die Förderung menschlicher Entwicklung, welche die Psychologie in den letzten hundert Jahren mühsam errungen hat, steht in Gefahr, fast ausschließlich auf "Symptombeseitigung” reduziert zu werden. Was sich nicht rechnet ist auch nichts wert, und sollte daher auch gar nicht ernsthaft weiter verfolgt werden - so die implizite Argumentationskette.

In der Hektik solcher kurzsichtigen Argumentationsketten, die dem Zeitgeist huldigen, werden dabei oft selbst einfache Zusammenhänge übersehen. So wird z.B. etlichen durchaus seriösen Therapierichtungen vorgeworfen, sie hätten keine oder nicht genügend wissenschaftlichen Belege für ihre Effektivität vorgelegt. Das mag aus dem Mund von Gesundheitspolitikern noch angehen. Wenn aber Wissenschaftler solche Vorwürfe erheben, muß man sich doch fragen, ob hier übersehen wird, daß die Aufgabe, wissenschaftliche Belege für oder gegen die Wirksamkeit zu erbringen, nicht den Therapierichtungen sondern den Wissenschaftlern zukommt. Es ist somit nicht ein Versäumnis der "Therapierichtungen” (wer immer damit gemeint sein mag), sondern der Wissenschaftler - besonders bei Richtungen, die seit Jahrzehnten in beachtlichem Ausmaß verbreitet sind. Trotzdem reagieren Vertreter so kritisierter Therapierichtungen oft kleinlaut, betreten und schuldbewußt, statt lautstark das Versäumnis der sie kritisierenden Wissenschaftler anzuprangern, und progressiv zu fragen, wo die Milliarden von Steuergeldern eigentlich geblieben sind, wenn nicht einmal Befunde über die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit von Verfahren X vorgelegt werden können. Die (verständlichen) karriere- und publikationsbedingten Vorlieben des Mainstreams psychologischer Forschung für Ansatz und Forschungsdesign YZ wird somit nun plötzlich zum gesundheitspolitischen Maßstab erhoben und die Versäumnisse jenen zugeschoben, die bisher weder finanziell noch institutionell für Forschung zuständig waren. Und dieser Taschenspielertrick funktioniert offensichtlich auch noch!

Im Zeitgeist liegt es auch, wenn eine Verwechslung von "Effektivität” mit einer bestimmten Vorgehensweisen ihrer Operationalisierung und Meßbarkeit einseitig z.B. eine Apparate-Medizin (mit unmittelbar meßbaren Effekten) gegenüber scheinbar "vagen” (weil schwieriger im Effekt zu messenden) Präventivmaßnahmen bevorzugt. Geht es aber wirklich um Fragen der Effektivität, wenn z. B. unter Aufwendung von Millionenbeträgen einem klinisch geretteten Suizidanten, der ohne Hoffnung bereits monatelang im Koma liegt, ein natürlicher Tod durch Abschaltung der Apparatur verweigert wird, und gleichzeitig massenhaft und in zahlreich Einrichtungen Mittel und Stellen für jene gestrichen werden, die dazu beitragen, daß die Zahl solcher Suizide nicht noch höher liegt? Oder geht es nicht vielmehr darum, daß an der Apparate-Intensiv-Medizin, andere Gruppen mit besserer Lobby in Bonn verdienen als an einer Präventiv-Sozial-Therapie - wenn man schon meint, wegen der "Sachzwänge” durch knappe Kassen (nach Abzug der "Not-wendigen” Rüstungsausgaben, Unternehmens-Subventionen etc., versteht sich! ) die eine gegen die andere Maßnahme ausspielen zu müssen?

Ich will aber diese Fragen nicht weiter verfolgen, die belegen, daß schon unter einem üblichen Verständnis von "Effektivität” die "Sachlage” oft keineswegs so klar und eindeutig ist, wie sie in den öffentlichen Debatten erscheint. Vielmehr möchte ich auf ein viel zentraleres Problem der Effektivitäts-Ideologie zu sprechen kommen: Wenn wir nämlich - wie auch das Tagungsthema zeigt - typischerweise die Denkfigur zulassen, die einen Gegensatz "zwischen Effektivität und Menschlichkeit” konstruiert, sind wir mit der Übernahme dieses Sprach- und Denkspiels schon in einer geschwächten Position. Wenn wir dann "das Menschliche” vertreten, müssen wir uns schon verteidigen und dafür entschuldigen, nicht (oder weniger) effektiv zu sein. Wir mögen vielleicht diese offenbar mangelnde Professionalität oder wissenschaftliche Fundierung mit persönlichen Vorlieben, ethischen Motiven, oder wie immer rechtfertigen - aber wir übernehmen gleichzeitig die Sichtweise, scheinbar berechtigten Anforderungen nicht zu genügen. Verschämt werden wir dann kleinlaut, quälen uns mit Selbstzweifeln, weil wir etwas "fühlen”, was offenbar nicht sein darf, oder zumindest rationaler Begründung nicht standhält.

Der Titel meines Vortrages aber lautet nicht: "Wie können wir trotz Menschlichkeit noch effektiv sein” (oder anders herum), sondern ich habe bewußt die Scheinalternative durchbrochen und von der "Effektivität des Menschlichen” gesprochen. Wie sich nämlich im Lichte moderner Naturwissenschaften zeigt - besonders im Lichte naturwissenschaftlich fundierter Systemtheorie - ist gerade "das Menschliche” effektiv. Ja, mehr noch, bei der technologischen Umsetzung der systemtheoretischen Erkenntnisse und der industriellen Verwertung, die z.B. zunehmend in physikalischer und chemischer Technologie Bedeutung erlangt, muß dieses "Menschliche” berücksichtigt werden, damit diese Technologien tatsächlich effektiv sind.

Was meine ich in diesem Zusammenhang mit "dem Menschlichen”? Nun, ich möchte dazu "sechs Kennzeichen der 'Arbeit am Lebendigen'” (verkürzt) zitieren, die der Gestaltpsychologe Wolfgang METZGER bereits 1962 formulierte - Kennzeichen, von denen ich überzeugt bin, daß jeder Praktiker im Bereich der Psychotherapie sie berücksichtigen muß und wird:

1. Nicht-Beliebigkeit der Form: Man kann Lebendigem "auf die Dauer nichts gegen seine Natur aufzwingen”, man "kann nur zur Entfaltung bringen, was schon in dem "Material” selbst an Möglichkeiten angelegt ist”.

2. Gestaltung aus inneren Kräften: "Die Kräfte und Antriebe, die die angestrebte Form verwirklichen, haben wesentlich in dem betreuten Wesen selbst ihren Ursprung.

3. Nicht-Beliebigkeit der Arbeitszeiten: Das lebende Wesen kann nicht beliebig auf seine Pflege warten ... Es hat vor allem seine eigenen fruchtbaren Zeiten und Augenblicke für Veränderung..

4. Nicht-Beliebigkeit der Arbeitsgeschwindigkeit: Prozesse des Wachsens, Reifens, Überstehens einer Krankheit usw. haben offenbar ihnen jeweils eigentümliche Ablaufgeschwindigkeiten...

5. Die Duldung von Umwegen: man muß überall Umwege in Kauf nehmen,

6. Die Wechselseitigkeit des Geschehens: "Das Geschehen ... ist wechselseitig. Es ist im ausgeprägten Fall ein Umgang mit "Partnern des Lebens” ...

Man könnte versuchen, diese "Kennzeichen” verächtlich zu machen und sie als Ausdruck "humanistisch-psychologischer Schwärmerei”, der jede "wissenschaftliche Basis” fehle, zu brandmarken (und einige präpotente "Macher” haben dies sinngemäß auch so versucht). Wenige Jahre nach METZGERs Synopse der gestaltpsychologisch-humanistischen Grundposition begann allerdings die moderne Chaos- und Systemtheorie in den Naturwissenschaften eine - inzwischen mit Nobelpreisen (d.h. der breiten Anerkennung auch durch die naturwissenschaftliche Main-Stream-Forschung) gewürdigte - rasante Entwicklung. Hierbei zeigte sich, wie ich gleich ganz kurz umreißen will, daß genau jene Prinzipien des "Menschlichen” wesentlich sind und beachtet werden müssen, wenn die Naturwissenschaftler mit Systemen in effektiver Weise umgehen wollen.

Doch bevor ich auf Systemtheorie im engeren Sinne komme, will ich noch ein damit im Zusammenhang stehendes weiteres ideologisches Mißverständnis aufgreifen - nämlich eine Umdeutung von "Wachstum”. Wieder können wir dem Einladungs-Folder prägnant und treffend die vorherrschende Sicht entnehmen, indem gefragt wird: "Kann die Psychologie dem ungebremsten Wachstumsdenken etwas entgegensetzen, und wenn ja - was?” Nun, so möchte ich erwidern, wir können uns am Wachstum der Natur orientieren - d.h. genau an jenem Bereich, aus dem der Wachstumsgedanke zunächst entlehnt und dann mißbräuchlich umgedeutet wurde.

Sehen wir uns nämlich z.B. Bäume an, so ist das Wesentliche des Wachstums keineswegs ein "immer mehr” von irgend etwas - etwa von Holz oder von Biomasse. Zwar spielt auch solche Zunahme eine Rolle, besonders in Anfangszeiten, aber dies ist vergleichsweise nebensächlich zum Aspekt der Entfaltung von Möglichkeiten, zur immer erneuten Anpassung an die Umgebungsbedingungen, zum "stirb und werde!”, wie GOETHE es ausgedrückt hat (z.B. das Abwerfen des Laubs im Herbst und das Sprießen neuer Blätter im Frühjahr bei den Laubbäumen). Genau diesen Aspekt meint beispielsweise auch das Konzept vom "Wachstum der Persönlichkeit” (und nicht etwa ein hypertrophierendes "immer mehr”). Unsere Wirtschaftsvertreter (und deren politische Handlanger) haben allerdings diesen wesentlichen qualitativen Aspekt des Wachstum in einen rein quantitativen pervertiert: Es geht allein um die Zunahme zum Bestehenden, gemessen in Prozentzahlen (das "stirb” wäre dann nur eine unliebsame Verminderung dieser Zahl). Angesichts eines Planeten, der nicht mitwachsen kann, und ohnedies hinsichtlich mancher Aspekte (Ozon-Abbau, Verschmutzung, Ressourcen-Ausbeutung) an den Belastungsgrenzen zu sein scheint, ist dieser Wachstums-Ideologie in der Tat auf das Schärfste entgegenzutreten. Ein Natur-gemäßes Wachstum aber müßte uns keineswegs ängstigen!

Kommen wir nun - in aller Kürze und Knappheit - zu den Essentials naturwissenschaftlicher Systemtheorie, so haben diese nicht zufällig viel mit dem angesprochenen "natürlichen” Wachstum zu tun. Es geht dabei um Phänomenbereiche wie z.B. die inzwischen bekannten "chemische Uhren” - chemische Reaktionen, bei denen sich nicht irgendwelche Reagenzien einmalig mit festem Endergebnis verbinden, sondern wo diese Reaktionen dynamisch verlaufen und dabei raum-zeitlich sich ausbreitende Muster ausbilden und die chemische Zusammensetzung an einer bestimmten Stelle (und z.B. bei entsprechenden Beimischungen: die Färbung) periodisch-oszillierend verändern (daher der Name "chemische Uhr”). Ein anderes, vielleicht ebenfalls allgemein bekanntes Phänomen, ist der LASER - ein System das so scharf gebündeltes kohärentes Licht aussendet, daß damit z.B. geschnitten werden kann (was im Bereich der Medizin oder Technik inzwischen in vielen Funktionen und Varianten verwendet wird). Ich möchte aber wesentliche Prinzipien an einem noch einfacheren System erläutern, der sog. BÉNARD-Instabilität, die (ähnlich wie Kippfiguren oder optische Täuschungen in der Gestaltpsychologie) gern und oft als paradigmatisches Beispiel für Emergenz angeführt wird. Daß ich als Psychologe überhaupt ein physikalisches System wähle, und nicht das Wachstum einer Pflanze, die Entwicklung eines Menschen oder die Dynamik einer Familie, hat neben dem Beleg naturwissenschaftlicher Fundierung den Grund darin, daß solche Systeme leichter abgrenzbar und weniger kompliziert sind sowie ideologisch wertfreier betrachtet werden können, als z.B. eine bestimmte Familiendynamik.

Das Phänomen der Bénard-Zellen ist schon fast seit hundert Jahren bekannt und beschrieben, doch konnte seine theoretische Erklärung erst im Zuge der modernen Systemtheorie erfolgen. Der zugrunde liegende Sachverhalt ist hier nochmals schnell dargestellt: Eine Flüssigkeit wird in einem runden Behälter von unten erhitzt; wie auch beim Erwärmen von Wasser auf dem heimischen Herd werden die Temperaturunterschiede von der heißen Bodenschicht zur (gekühlten) Oberfläche durch Konvektionsströmung ausgeglichen - d.h. heiße und damit spezifisch leichte Teile steigen nach oben, kalte und spezifisch schwere bewegen sich nach unten. Bei kontinuierlicher Erhöhung dieser Temperaturdifferenz findet bei einem kritischen Wert plötzlich eine sprunghafte, qualitative Veränderung statt: Eine geordnete Bewegung der Gesamtflüssigkeit in Form von makroskopischen Bewegungsrollen setzt ein, wobei an jeder Bewegungsrolle Myriaden von Molekülen kooperativ beteiligt sind (in Abb. 1a schematisiert). Zudem nimmt die Rollenbewegung typischerweise die komplizierte Form eines Bienenwabenmusters an (von oben gesehen - Abb. 1b).




Abb. 1: Bénard-Instabilität. (a) Bewegungsrollen (schematisch, von der Seite gesehen), (b) bienenwabenförmige Rollen-Muster (von oben gesehen)



Es handelt sich um ein einfaches aber typisches Beispiel von Selbstorganisation, denn die Flüssigkeit bildet diese makroskopische Struktur (beschreibbar durch die Ordnungsparameter eines Feldes) aus sich heraus. Die Ordnung wird eben nicht von außen als "Ordnung” eingeführt - etwa, indem jemand in der Flüssigkeit in Form der Bewegungsrollen herumrührt (wie es für das "klassische” Verständnis von Intervention typisch wäre). Vielmehr führen ganz unspezifische Randbedingungen (hier: Temperaturdifferenz) selbstorganisiert zu dieser hoch differenzierten dynamischen Struktur, die als eine inhärente Ordnungsstruktur des System selbst verstanden werden muß - z.B. sind von mir vielleicht erwünschte achteckige Bewegungsrollen (statt sechseckiger) keine inhärente Struktur, sie können daher nicht erzeugt werden. Dabei tragen alle Moleküle zu diesem strukturierten Bewegungs-Feld bei, das anders herum die Dynamik der einzelnen Moleküle bestimmt, so daß wir es mit einer zirkulären Kausalität zwischen Mikro- und Makro-Ebene zu tun haben.

Worin beruht nun der wesentliche Unterschied der Effektivität im Umgang mit solchen Systemen im Gegensatz zur Vorstellung von Effektivität in unserer, von der klassisch-abendländischen Wissenschaftsideologie noch weitgehend beherrschten Alltags-Welt (und auch der kognitiven Welt noch allzuvieler Psychologen und Mediziner)?

Die klassisch-abendländische Ideologie ist bestimmt durch den Umgang mit toter Materie in artifiziell isolierten Systemen und einer Mechanik, die ebenso artifiziell ist und trotz der Berücksichtigung von Bewegung entwicklungsmäßig völlig statisch ist (selbst die Thermodynamik müßte aus der Sicht heutiger dynamischer Systeme eher Thermostatik heißen). Im Umgang mit solchen Systemen geht es wesentlich darum, was ich einmal "Blechbüchsen-Ideologie” genannt habe: Eine Blechbüchse, deren "verbeulte” Form mir nicht paßt, kann ich ausbeulen oder im hohen Maße andere designhafte Vorstellungen darüber stülpen (z.B. sie in Form eines Osterhasen pressen). Lokale, ursächliche Einwirkungen sind dann typisch und erfolgreich und es besteht eine hohe Korrelation zwischen der Menge an aufgewendeter Energie und dem Ergebnis (=Effektivität).

Die Naturwissenschaft hat aber in diesem Jahrhundert - und nochmals verstärkt in den letzten Jahrzehnten - einsehen müssen, daß solche isolierten, rückkopplungsfreien Teilsysteme, bestenfalls für Sonderbereiche und über kurze Zeiten eine angemessene Beschreibung der Natur darstellen. Verläßt man den Gültigkeitsbereich solcher isolierten Teilsysteme, klammert man insbesondere Dynamik und Rückkopplung nicht mehr aus, greifen die oben kurz charakterisierten Essentials der Systemtheorie. Dies ist schon für immer größere werdende Gegenstandsbereiche toter Materie notwendig; für den Bereich des Lebens - also Biologie, Medizin, Psychologie etc. - führt die Vernachlässigung von Rückkopplungen wesentlich in die Irre. Evolutionär (und das gilt auch für vergleichsweise kurze Zeiten wie die Ontogenese oder Soziogenese, die Genese einer Paarstruktur, Pathogenese etc.) sind die hier zu betrachtenden Systeme eben nicht vom Menschen zweckdienlich gemacht und "funktionieren” unter isolierten, künstlich konstant gehaltenen Umgebungsbedingungen. Vielmehr sind diese Systeme selbstorganisiert und ihre wesentliche Funktionsfähigkeit liegt garade darin, sich an Veränderung von Umweltbedingungen anzupassen (oder besser: in den wechselseitigen Veränderungen eine dynamische Koevolution zu realisieren). In der Systemtheorie geht es also um selbstorganisierte, Systeme, deren dynamische Struktur unterstützt und gefördert, aber letztlich nicht "gemacht” werden kann (wie der Blech-Osterhase). Und der Umgang mit solchen Systemen ist grundlegend anderes. Schon ein Wasserfall läßt sich nicht, wie eine Blechbüchse, mit einem Werkzeug "ausbeulen” wenn einem die Form bzw. Struktur nicht paßt. Erfolgreiche - d.h. auch: effektive - Interventionen müssen daher der Eigenstruktur (besser: dem Raum möglicher Eigenstrukturen) des Systems Rechnung tragen. Man muß, wie wir sahen, auf die "Geschichte” und den derzeitigen Entwicklungsstand des Systems Rücksicht nehmen - und je nach diesem Stand kann "dieselbe” Intervention viel oder wenig bewirken. In sensiblen Entwicklungs-Phasen des Systems genügen ganz kleine Interventionen, um einen qualitativen Sprung einzuleiten, während in stabilen Phasen ein Vielfaches an "Input” nahezu nichts bewirken kann.

Kurz: Es müssen genau jene, oben als "menschlich” charakterisierten - und von METZGER als Kennzeichen der Arbeit am Lebendigen zusammengefaßten - Prinzipien selbst im Umgang mit physikalischen oder chemischen "toten” (aber nicht rückkopplungsfrei isolierten) Systemen berücksichtigt werden, wenn die Naturwissenschaftler im Umgang mit solchen Systemen "effektiv” sein wollen. Das wird besonders deutlich, wenn wir die wesentlichen Aspekte nochmals zusammenstellen (vgl. Tab. 1).

Genaugenommen ist dies eigentlich alles gar nicht so neu und erstaunlich: In den wesentlichen Erfahrungsbereichen des Lebens ist dies Menschen seit Jahrtausenden zumindest implizit bewußt. Und die Menschen richten sie sich danach, wenn sie Nutzen "aus der Natur” ziehen und keinen Schaden anrichten wollen. Beispielsweise weiß jeder Bauer und jeder Gärtner, daß die Ordnung, die sie heranwachsen sehen, nicht "gemacht” ist, wie Blech-Osterhasen, und es ihre Aufgabe nicht ist, kleine Pflanzen durch ungeduldiges Herumrupfen zu großen machen zu wollen, oder mit der Nagelschere die Blätter eines "kranken” Baumes in die "richtige” Form zurechtzuschneiden - all dies wäre ebenso unsinnig wie ineffektiv. Gleichwohl sind sie deswegen nicht zum Nichtstun verdammt. Vielmehr bedeutet "Effektivität” eben in einer Mischung aus Gewähren-Lassen, Dulden, Respektieren der Eigenformen und Eigendynamiken, Sensibilität für die rechten Zeitpunkte etc., die Prozesse durch günstige Umgebungsbedingungen in ihrer Eigenart zu fördern. Genau dies tun Mütter seit Jahrtausenden mit ihren heranwachsenden Föten. Man könnte die Föten zwar inzwischen im 5 Monaten herausoperieren, einer Apparate-Medizin unterwerfen um so in kürzerer Zeit mehr Kinder von derselben Mutter - optimiert mit künstlicher Befruchtung - zu erhalten. Aber gottlob ist dieser Bereich bisher von der Art neupropagierter "Effektivität” verschont geblieben (wenn auch nicht ganz: wenn man an die Samenbanken von Nobelpreisträgern denkt, von denen sich bereits einfältige Frauen bedienen). Und zumindest Bevölkerungs-Wachstum propagiert angesichts beklagter "Übervölkerung” niemand ernsthaft (wohl aber bestimmter Nationalitäten und Rassen - wie z.B. in nationalistischen französischen Gemeinden).



W. METZGERs "Kennzeichen..” Prinzipien naturwiss. Systemtheorie
1. Nicht-Beliebigkeit der Form:

Man kann Lebendigem "auf die Dauer nichts gegen seine Natur aufzwingen”, man "kann nur zur Entfaltung bringen, was schon in dem "Material” selbst an Möglichkeiten angelegt ist”


Man kann einem System nicht jede beliebige Form aufzwingen, sondern nur dem System inhärente Organisationsformen fördern
2. Gestaltung aus inneren Kräften:

"Die Kräfte und Antriebe, die die angestrebte Form verwirklichen, haben wesentlich in dem betreuten Wesen selbst ihren Ursprung


Die entscheidenden Größen der Ordnung - sog. "Ordnungsparameter” - haben wesentlich ihren Ursprung im System selbst
3. Nicht-Beliebigkeit der Arbeitszeiten: Das lebende Wesen kann nicht beliebig auf seine Pflege warten ... Es hat vor allem seine eigenen fruchtbaren Zeiten und Augenblicke für Veränderung..
Systeme haben eine "Geschichte” - relativ zu dieser gibt es bewirken "dieselben” Interventionen mal fast nicht in anderen Phasen qualitative Sprünge
4. Nicht-Beliebigkeit der Arbeitsgeschwindigkeit:

Prozesse des Wachsens, Reifens, Überstehens einer Krankheit usw. haben offenbar ihnen jeweils eigentümliche Ablaufgeschwindigkeiten...



Phasenübergänge - das was von außen als wesentliche/qualitative Änderung der Struktur-Dynamik wahrgenommen wird - haben system-inhärente (”eigentümliche”) Verläufe
5. Die Duldung von Umwegen:

man muß überall Umwege in Kauf nehmen


Die Entwicklungswege müssen respektiert werden (z.B. kann der Weg durch Bifurkationen nicht "abgekürzt” werden)
6. Die Wechselseitigkeit des Geschehens:

"Das Geschehen ... ist wechselseitig. Es ist im ausgeprägten Fall ein Umgang mit "Partnern des Lebens” ...



Systeme sind nicht nur durch wechselseitige Verknüpfung der "Elemente”/Teildynamiken ausgezeichnet, sondern auch die Trennung System / Umwelt ist rein analytisch-formal - (jede Separierung und Ausschluß holistischer Wechselwirkungen ist eine (ggf. notwendige) Vereinfachung.

Verwunderlich ist somit weniger die neue Erkenntnis der Naturwissenschaftler sondern eher die Tatsache, daß kontrafaktisch zur Erfahrung der Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten abendländische Wissenschaft als Quelle von Ordnung einzig und allein deren Herstellen und Kontrolle erforschte und propagierte und sich ausführlich nur dem Zerfall von Ordnung (im Rahmen der Thermodynamik) widmete. Dies hängt wohl nicht zuletzt damit zusammen, daß den Mächtigen eine gemachte und kontrollierte Ordnung natürlich viel besser in die Interessen paßte als ein Konzept autonomer, selbstorganisierter Ordnung.

Entsprechend war - und ist - eines der zentralen Lei(d)tmotive klassisch-abendländischer Wissenschaft und Technologie VICOS Verdict von 1710: verum et factum conventur (Wahr-Sein und Hergestellt-Sein ist dasselbe). "In der heutigen Wissenschaftspraxis gilt de facto die Machbarkeit als letztes Richtigkeitskriterium des wissenschaftlichen Denkens” kritisiert denn auch Hans PRIMAS von der ETH-Zürich (PRIMAS 1995: 212). Und in meinem Buch "Chaos, Angst und Ordnung” (KRIZ 1977b) habe ich nicht nur gezeigt, wie allgemein die zunächst notwendige Fähigkeit des Menschen, das Angst machende Chaos zur bannen und Ordnung zu etablieren, allzu leicht übertrieben und dann in Zwangsordnungen münden kann, sondern wie an der Wiege abendländischer Wissenschaft durch die "Väter” Bacon, Descartes und Newton genau jene Kontroll- und Beherrschbarkeits-Phantasien aus Angstabwehr standen - Angst vor dem archaisch-weiblichen (z.B. in Form alternatives Wissens der Hexen), vor dem Einmaligen und vor dem nicht-Kontrollierbaren.

Ich will dies hier nicht nochmals ausführen. Gleichwohl ist bemekenswert, wie verblüffend die Mechanismen, die wir bei Zwangspatienten zur Angstabwehr als typische Symptome deuten, jenen Prinzipien entsprechen, die in der abendländischen Wissenschaft - und z.B. immer noch auch in den psychologisch-methodischen Lehrbüchern - als "Tugenden” einer sauberen Methodik propagiert werden, nämlich:

möglichst weitgehende Ausschaltung von Unvorhersehbarem und Unkontrollierbarem,

Reduktion von Einflußvariablen,

möglichst weitgehende Prognose der Ergebnisse von Handlungen,

maximale Kontrolle dessen, was passieren kann,

das Verbergen der eigenen Motive und Emotionen hinter einer "richtigen” Methodik,

Beschränkung der Erfahrungen auf jenen Bereich, der durch "zulässige” Fragen und Vorgehensweisen vorab definiert ist.

Wenn uns dies alles klar wird, was bleibt uns konkret zu tun?

Der wichtigste Aspekt, den ich mit meinem Vortrag herausarbeiten wollte, ist, der Ideologie einer un-menschlichen Effektivität - einer Effektivität, die mit pseudo-wissenschaftlichen und Pseudo-Sachzwang-Argumenten gegen Menschlichkeit ins Feld geführt wird - die Effektivität des Menschlichen entgegenzusetzen. Das bedeutet, sich in den Auseinandersetzungen nicht durch falsche Alternativen oder durch falsch verstandene "Wissenschaftlichkeit” aushebeln und kleinlaut machen zu lassen, sondern progressiv das Menschliche zu vertreten. Dabei müssen wir allerdings mit dem Widerstand und der Angst derjenigen rechnen, die weiterhin auf Ordnung und Effektivität allein durch Kontrolle und Quantität setzen (trotz des Geredes von angeblichen "Qualitäts-Sicherung!). Wir dürfen uns aber in der Berufung auf die von Wolfagng METZGER thematsierten Prinzipien - die für die Gestaltpsychologie ebenso relevant sind wie für zahlreiche therapeutische Ansätze der sog. "Humanistischen Psycholigie" - inzwischen auch der Unterstützung durch die Naturwissenschaft sicher sein. In sofern ist zu hoffen, daß der Ruf nach einer menschlichkeitsfeindlichen Effektivität mittelfristig zu den Absurditäten unverstandener Wissenschaft im Ausklang des 20. Jahrhunderts gerechnet werden darf.

Zusammenfassung

Mit dem Ruf nach "Effektivität" wird im gegenwärtigen Zeitgeist versucht, Menschlichkeit und humanistisch-therapeutische Werte zugunsten einer technokratisch und ökonomistisch verstandenen "Wissenschaft" auszuhebeln. Es wird aber gezeigt, daß Wolfgang METZGERs zusammengefaßte Postulate der "Arbeit am Lebendigen" nicht als Relikte einer überkommenen Bewegung der Gestaltpsychologie oder als belächelte Schwärmereien einer humanistischen Bewegung zu verstehen sind, sondern inzwischen innerhalb moderner Naturwissenschaft als wesentliche Kriterien für einen effektiven Umgang mit Systemen gesehen werden. Das Menschliche ist somit durchaus effektiv.

Summary

Today, in the discussion of social politics, we often find the argument that efficacy and efficiency require other "qualities" instead of humanistic values (for instance in psychotherapy). By way of contrast this paper argues that the principles of work with living entities - summarized in the sixties by Wolfgang METZGER - turn out to be principles of effectiveness in modern natural sciences, too. Whenever natural scientist want to treat complex systems in an effective way, they have to respect METZGER's principles. Therefore, fundamental concepts concerning "efficacy in humanistic psychology and in modern natural science" stress the same principles.

Literatur

KRIZ, J. (1987): Systemebenen in der Psychotherapie. Zur Frage des Interventionskontextes in der Familientherapie. In: SCHLIPPE, A.v. & KRIZ, J. (Eds.): Familientherapie. Kontroverses - Gemeinsames. Wildberg: Bögner-Kaufmann, S. 76 - 87

KRIZ, J. (1992): Chaos und Struktur. Systemtheorie Bd 1. München, Berlin: Quintessenz

KRIZ, J. (1993): In der Baumschule. Scheidewege, 23, 1993, Bd II, 432-439

KRIZ, J. (1994): Grundkonzepte der Psychotherapie. Eine Einführung. 4. Aufl. Weinheim: Beltz (1. Aufl. 1985, München: Urban & Schwarzenberg)

KRIZ, J. (1997a): Systemtheorie. Eine Einführung für Psychotherapeuten, Psychologen und Mediziner. Wien: Facultas

KRIZ, J. (1997b): Chaos, Angst und Ordnung. Wie wir unsere Lebenswelt gestalten. Göttingen/Zürich: Vandenheock & Ruprecht (Vandenheock Transparent, Bd. 42)

MASLOW, A. (1977): Die Psychologie der Wissenschaft. München: Goldmann

METZGER, W.(1962): Schöpferische Freiheit. Frankfurt: Waldemar Kramer

PORTELE, G. H. (1992): Der Mensch ist kein Wägelchen. Köln: Edition Humanistische Psychologie

PRIMAS, H.(1995): Über dunkle Aspekte der Naturwissenschaft. In: ATMANSPACHER, H. et al. (Hrsg.): Der Pauli-Jung-Dialog und seine Bedeutung für moderne Wissenschaft. Berlin, Heidelberg: Springer 1995, 205-238

WALTER, H.-J. (1994): Gestalttheorie und Psychotherapie. Opladen: Westdeutscher Verlag (3. Aufl.)