Quelle: Kriz, Jürgen (1997): Begegnung und Erkenntnis. Kann Psychotherapie als Wegweiser für lebensgerechtere Wissenschaft dienen? In: Scheidewege, Jahresschrift für skeptisches Denken, Jg. 27, 145-181

Jürgen Kriz

Begegnung und Erkenntnis

Kann Psychotherapie als Wegweiser für eine lebensgerechtere Wissenschaft dienen?


Prolog:

Man geht heute davon aus, daß in der Entwicklungsgeschichte dieses Planeten bereits vor rund drei Milliarden Jahren erste Lebensspuren auftraten. Älteste bekannte Feuerstellen werden eine halbe Million Jahre vor unserer Zeit datiert. Seit 400.000 Jahren gibt es den Menschen in der Form des sogenannten "homo sapiens” - den "modernen” Menschen, "homo sapiens sapiens”, wie er sich selbst bezeichnet, gibt es seit immerhin ca. 120.000 Jahren. Bezogen auf die Dauer eines Tages währt das nun gut 300 jährige Programm abendländischer Wissenschaft weit weniger als eine Minute in der Menschheitsgeschichte - in der Geschichte des Lebens sogar nur wenige Millisekunden.

Bedenkt man nun noch, daß die Völker des Abendlandes weniger als 1/5 der Weltbevölkerung ausmachen, muß festgestellt werden, daß eine historisch und geographisch verschwindend kleine Minderheit mit ihrem Wissenschaftsprogramm in geradezu unglaublich kurzer Zeit diesen Planeten mit seinen Menschen und der Mitwelt an den Rand des Abgrundes geführt hat.

Ob wir daher so stolz auf die Errungenschaften dieser abendländischen Wissenschaft sein sollten, wie wir uns selbst und der Welt immer noch weitgehend ungebrochen über alle Medien verkünden und dabei in kultur- und wissenschaftsimperialistischer Manier die Lebenswelten anderer Völker und Kontinente mit diesem Kulturprogramm zunehmend erobern, werden wohl erst ferne Generationen beurteilen können. Ganz gewiß aber ist die ethische, moralische und soziale Entwicklung des Menschen weit hinter dem analytisch-wissenschaftlichen Fortschritt zurückgeblieben. Denn die abendländische Wissenschaft hat nicht nur theoretisch ein beispiellos todbringendes Potential geschaffen - sie realisiert auch zunehmend diese Möglichkeiten. Als Belege dafür, daß dem Menschen die Folgen seines Wissenschaftens längst über den Kopf gewachsen sind, wären die Entwicklung von Massenvernichtungsmitteln sowie deren Einsatz in zwei Weltkriegen, in deutschen Gaskammern und auf zahlreichen weiteren Schauplätzen in dieser Welt, anzuführen. Ferner die Zerstörung der Mitwelt durch eine Wirtschafts- und Technik-”Entwicklung”, die selbst bei gesicherten und elementaren Zusammenhängen, wie beim CO2-Ausstoß oder der Abholzung der Regenwälder, nicht den kurzfristigen Eigennutz als oberstes Handlungsprinzip zu überwinden vermag, der Einsatz von medizinischen Erkenntnissen zur Perfektionierung von Foltermethoden oder zur Herstellung biologischer Kampfstoffe, und so fort. Der Mensch bedürfte somit dringend einer "Nachsozalisation” (wie dies Psychotherapeuten allgemein bei schweren Persönlichkeitsstörungen des Menschen fordern), um die Diskrepanz zwischen wissenschaftlich-technischer und ethisch-sozialer Entwicklung zu mildern und um zu versuchen, Schlimmstes zu verhindern.

Eine Veränderung der abendländischen Wissenschaftsideologie ist dringend geboten, will man nicht in den Zynismus verfallen, daß es für das Leben auf diesem Planeten insgesamt vielleicht das Beste wäre, daß der Mensch auf seinem Wege, der ihn an den Rand des Abgrundes geführt hat, nun möglichst schnell einen letzten weiteren "Fort”-Schritt vollzieht - und damit den vielen Arten von Lebewesen folgt, die unter seiner Mitwirkung endgültig ausgerottet wurden. Glücklicherweise gehört die Diktion, der Mensch könne "den Planeten” oder "das Leben” darauf endgültig zerstören, zur anthropozentrischen Hybris und "science fiction” abendländischen Denkens: Der Mensch kann zwar nicht ohne seine lebende Mitwelt auskommen, letztere aber sehr wohl ohne ihn. Selbst nach dem größten Desaster aller ABC-Waffen, radikaler Zerstörung der Ozonschicht oder was auch immer, wird vielleicht der Mensch mit weiteren Arten gänzlich verschwunden sein. Aber über seinen Gräbern wird neues Leben erblühen - und die zusammengeraffte Materie, für die er letztlich glaubte, alles auf Spiel setzen zu müssen, sowie die Zäune, mit denen er meinte, Parzellen dieses Planeten auf Dauer als sein Privateigentum abgrenzen zu können, werden unter einem Blumenteppich verschwinden.

Dieser Zynismus ist, gepaart mit Thanatophilie, der Lust an der völligen Zerstörung des Bestehenden, in unterschiedlichen Formen gerade unter der heutigen Jugend - dem derzeitigen Zukunftsträger menschlichen Lebens - erschreckend verbreitet. Dabei wird jedoch allzu leicht übersehen, daß mit den sinnlos zusammengerafften Gütern und den lebenswidrig gesetzten Grenzzäunen ideeller und materieller Art auch die Venus von Milo, das Steintor von Tiahuanaco, das Tadsch-Mahal und die japanischen Zen-Gärten vergehen würden. Niemand könnte dann mehr die Verse eines Garcia Lorca zu Gehör bringen, und die Geigen von Antonius Stradivarius würden vermodern, anstatt mit anderen Instrumenten in den Händen ihrer Spieler die Notenschrift eines Gustav Mahler zu Klängen in Raum und Zeit zu transformieren, die davon künden, "was mir der Himmel erzählt”, wie der letzte Satz seiner 3. Symphonie überschrieben ist. Und auch die Ergebnisse abendländischer Wissenschaft sind keineswegs allesamt, wohl nicht einmal in ihrer Mehrheit, zu beklagen: Aus der Erkenntnis, daß wir einen Weg so nicht weitergehen dürfen, weil immer deutlicher wird, daß das Übergewicht an Zerstörungswissen und der Mangel an Erhaltungswissen sich zunehmend auch in einem Übergewicht an zerstörerischen Handlungen realisiert, folgt nicht, daß alles bisherige Wissen und alle erbrachten Ergebnisse auf der Suche nach einem neuen Weg des Wissenschaftens unbrauchbar wären.

Eine Neuausrichtung freilich wäre notwendig: Die Lage ist ernster und bedrohlicher als jemals zuvor in der Geschichte, obwohl (oder weil) der gesellschaftlich organisierte "Tanz um das goldene Kalb”, angeführt von der übergroßen Mehrheit in Wirtschaft und Wissenschaft, uns weismachen will, es sei alles nicht "so schlimm” und die Wissenschaft würde schon "alles in den Griff bekommen” - selbst wenn, wie die Weltklimakonferenz 1995 gezeigt hat, sich bisher weder eine Abkehr noch gar eine Umkehr abzeichnet. Sofern wir aber dem o.a. thanatophilen Zynismus als Wegweiser nicht folgen wollen, kommen wir nicht umhin, nach anderen Wegweisern Ausschau zu halten. Mit seiner Fähigkeit zur Reflexivität hat der Mensch wegen der Möglichkeit, die Vergangenheit aufzuarbeiten und in die Zukunft zu schauen, auch die Gabe der Hoffnung erhalten sowie die Macht der Phantasie, neue Wege in die Zukunft zu erfinden.

Karlfried Graf Dürckheim, Psychotherapeut und Zen-Meister, hat in Vorträgen und Schriften darauf hingewiesen, daß "Therapeut” im Griechischen ursprünglich meinte: "Begleiter auf dem Weg zum Heil”. Dies mag uns ermutigen, im folgenden der Frage nachzugehen, ob und wie Psychotherapie ein Wegweiser für eine weniger Unheil stiftende Wissenschaft sein könnte. Dabei nehme ich, vorab bemerkt, mit "Psychotherapie” auf solche ganzheitlichen Ansätze Bezug, die sich noch nicht vom abendländischen Effektivitätsdenken haben verführen lassen. Dies wird aber ebenfalls noch genauer entfaltet.

I. Warum gerade Psychotherapie als Wegweiser?

Auf den ersten Blick mag erstaunen, daß gerade Psychotherapie ein Wegweiser für eine lebensgerechtere Wissenschaft sein könnte: Zwar haben Wissenschaftler mit Psychotherapeuten gemeinsam, daß sprachliche Kommunikation zu den zentralen Bestandteilen ihrer Tätigkeit gehört - weit mehr als es bei Handwerkern, Kraftfahrern oder Bauern der Fall ist. Gleichwohl ist die erkenntnisleitende Blickrichtung, unter der (professionell) Welt erfahren und zur Sprache gebracht wird, zwischen Wissenschaftlern und Psychotherapeuten gemeinhin völlig gegensätzlich. Wissenschaft, so wird gesagt, habe den Blick auf Gesetzmäßiges, Prognostizierbares und auf mögliche Gemeinsamkeiten in den Phänomenen zu richten, und damit von der Individualität und der Einmaligkeit der Abläufe in dieser Welt zu abstrahieren. So betonte z.B. Wolfgang Pauli, Physik-Nobelpreisträger und einer der führenden Quantentheoretiker dieses Jahrhunderts, in der Einleitung zu einem Symposium anläßlich des Internationalen Philosophenkongresses in Zürich 1954:

"Ich behaupte nicht, daß das Reproduzierbare an und für sich wichtiger sei als das Einmalige, aber ich behaupte, daß das wesentlich Einmalige sich der Behandlung durch naturwissenschaftliche Methoden entzieht. Zweck und Ziel dieser Methoden ist es ja, Naturgesetze zu finden und zu prüfen, worauf die Aufmerksamkeit des Forschers allein gerichtet ist und gerichtet bleiben muß”.

Dieser Sichtweise würden wohl auch heute noch nicht nur viele Naturwissenschaftler, sondern auch Geistes- und Sozialwissenschaftler überwiegend zustimmen.

Im Gegensatz dazu haben Psychotherapeuten immer einen einzelnen Menschen (oder ein Paar, eine Familie) vor sich, ausgezeichnet durch eine individuelle Geschichte. Zwar lassen sich Ähnlichkeiten - ja sogar manche Gleichheiten - zur jeweils individuellen Geschichte anderer finden. Aber für ein tieferes Verständnis und für eine angemessene, würdevolle Begegnung, geht es eben gerade um diese Einmaligkeit, die sich aus dem Vergleichbaren spezifisch hervorhebt.

Ohne Zweifel weiß auch der Psychotherapeut im Rahmen klinisch-psychologischer Theorien um "Gesetzmäßigkeiten”: Er mußte die derzeit im Abendland gängigen Vorstellungen über Krankheitsentstehung und -verläufe studieren; er kennt die diagnostischen Kategoriensysteme, mit Hilfe derer er sich mit anderen Psychotherapeuten über seine Patienten- Erfahrungen verständigen kann, weil solche Kategorien auf einen gemeinsamen Erfahrungshintergrund im Umgang mit menschlichem Leid verweisen, er hat sich mit Kriterien und Konzepten wirksamer Interventionen auseinandergesetzt, kurz: Er kennt die Psychotherapie auch als eine Wissenschaft, in der es um allgemeine Naturgesetze geht - also um Reproduzierbares hinsichtlich der psychischen, psychosomatischen und sozialen Natur des Menschen.

Auch der Psychotherapeut ist daher in das soziale und kognitive Gefüge der Wissenschaft eingebunden. Aber in der konkreten therapeutischen Situation bildet dieses Wissen bestenfalls einen allgemeinen kognitiven Hintergrund, vor dem er handelt (oder, in manchen Psychotherapieformen, wie z.B. der Verhaltenstherapie: aus dem er einen Teil seines "Handwerkszeuges” abgeleitet hat). Er kann daher beispielsweise seinem Patienten nicht als einem "Depressiven” begegnen, der genau in die diagnostische Kategorie 300.40 DSM III-R fällt - mit den damit zusammenhängenden Vorstellungen über Entstehung und Verlauf von Krankheit. Vielmehr kann der Psychotherapeut nur zu einem einmaligen Menschen Kontakt herstellen, und er wird dessen einmalige Lebensgeschichte implizit oder explizit berücksichtigen müssen und ihn, bestenfalls, im Verlauf der psychotherapeutischen Kontakte auf allen Wegen und "Umwegen” - jenseits lehrbuchartiger "Krankheitsverläufe” - begleiten.

Es scheint so, als folge aus diesen gegensätzlichen Perspektiven - der Wissenschaftler, der das Allgemeine, Reproduzierbare der Welt und der Psychotherapeut, der das Einmalige, Individualgeschichtliche, zur Sprache bringt - auch zwangsläufig ein unterschiedlicher Umgang mit den Erfahrungen in dieser Welt: Auf der einen Seite geht es um eine Erkenntnis, welche die Welt möglichst objektiv abbildet. Auf der anderen Seite hingegen stehen nicht-objektive Beziehungen im Zentrum. Daß eine solche Schlußfolgerung aber fehlgeht, hat ein anderer Quantenphysiker und ebenfalls Nobelpreisträger, Werner Heisenberg, bereits 1955 so ausgedrückt:

"Wenn von einem Naturbild der exakten Naturwissenschaften in unserer Zeit gesprochen werden kann, so handelt es sich eigentlich nicht mehr um ein Bild der Natur, sondern um ein Bild unserer Beziehung zur Natur.”

Dies Zitat macht deutlich, daß die Physik - zumindest im Verständnis eines ihrer führenden Vertreter - längst die Idee aufgegeben hat, sie könne zu einer objektiven, vom Menschen unabhängigen Ordnung dieser Welt vordringen. Vielmehr geht es darum, eine Fehlentwicklung abendländischer Wissenschaft nun endlich wieder zu korrigieren: Nämlich den mißlungenen Versuch, den Erkennenden aus der Beschreibung des Erkannten auszublenden bzw. sich als Teil selbst aus dem Ganzen lösen oder es gar beherrschen zu wollen. Eine lebens- und naturgerechtere Wissenschaft (die den Menschen als Teil der Natur versteht, und die damit dann wie selbstverständlich auch der Natur des Menschen gerechter würde) erfordert somit als eine wichtige Grundqualität ein ganzheitliches In-Beziehung-Treten-Können. Dies ist im Sinne Martin Bubers gemeint, wonach das Ich sich erst und nur in der Begegnung mit dem Du ergibt und umgekehrt. Entsprechend liegt nach Maurice Friedman, die Bedeutung Bubers besonders in dessen Kritik "an der Herrschaft des Ichs des Forschers über das Es des untersuchten Gegenstandes in der heutigen Wissenschaft: Wissenschaft wurde zur unpersönlichen Manipulation, die wesentlich beteiligt ist am Verschwinden Gottes und an der Massenvernichtung selbst.”

Angesichts dieser wieder entdeckten Bedeutung menschlicher Beziehungsfähigkeit durch die moderne Naturwissenschaft ist die gängige psychotherapeutische Erfahrung bedrückend, daß viele, wenn nicht die meisten, Patienten ganz wesentlich darunter leiden, nicht oder nur verängstigt, verkrampft, verstümmelt, verbogen in Beziehung treten zu können - zu Partnern, Eltern oder Kindern, zu den Mitmenschen, zur Mitwelt sowie, sehr oft und damit verbunden, zu sich selbst. Ein wesentliches Kennzeichen dieser Störung in der Beziehungsfähigkeit besteht darin, daß statt des Sich-Einlassses versucht wird, die Beziehung unter Kontrolle zu bringen. Je mehr Angst jemand empfindet, desto höher wird sein Sicherheitsbedürfnis sein. Jedoch ist es ebenso gängige menschliche Erfahrung, daß es selten längerfristig gelingen kann, Sicherheit allein über Ausübung bzw. Erhöhung von Kontrolle zu erlangen. Schon der Volksmund glossiert diesen meist untauglichen Versuch mit: "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.” In psychotherapeutischen Praxen sind denn auch kaum Menschen anzutreffen, die zuviel Vertrauen erfahren haben bzw. selbst zu viel Vertrauen zeigen, im Gegensatz zur Fülle jener Menschen, die zuviel Kontrolle erfahren haben bzw. die unter ihrem eigenen Hang nach Kontrolle leiden. Eine zentrale Aufgabe von Psychotherapeuten ist es daher, die Beziehungsfähigkeit so zu fördern, daß möglichst angstfreie, offene, ganzheitliche und spontane Begegnungen möglich werden.

Es muß allerdings konstatiert werden, daß dieser Aufgabenbestimmung vermutlich keineswegs die Vertreter aller psychotherapeutischen Richtungen vorbehaltlos zustimmen würden. Denn sogar in diesem Feld ist die Vermittlung von Selbst-Kontrolle oft leichter - und erscheint damit "effektiver” - als die von Selbst-Vertrauen. Unterschiedlichen Sichtweisen von Psychotherapie sollen hier aber nicht weiter diskutiert werden. Statt dessen soll in diesem Rahmen von einer "ganzheitlichen Psychotherapie” ausgegangen werden, womit Ansätze gemeint sind, die zumindest das Ziel der Begegnungsfähigkeit teilen. Da ich nicht sehen kann, wie Psychotherapie-Ansätze ohne diese Qualität als Wegweiser für eine lebensgerechtere Wissenschaft dienen könnten, wird im Rahmen dieser Abhandlung kürzer auch einfach von "Psychotherapie” gesprochen -.

Sofern man nun Psychotherapie als Kunst begreift, das In-Beziehung-Treten-Können im Sinne Bubers zu fördern, und dem zustimmt, daß diese Fähigkeit eine wesentliche Grundqualität einer naturgerechteren Wissenschaft wäre, liegt es auf der Hand, zu versuchen, dieses psychotherapeutische "Wissen” einerseits zum Verständnis der Fehlentwicklungen heutiger Wissenschaft und andererseits zur Förderung einer "menschlicheren” (oder besser: naturgerechteren) Wissenschaft zu nutzen. Diese Welt-Sicht stimmt mit der von Abraham Maslow überein, der (sinngemäß) einmal voller Entrüstung fragte: Warum fragen wir eigentlich immer wieder, ob die Psychotherapie auch wissenschaftlich genug sei? Warum fragen wir nicht lieber, ob die Wissenschaft psychotherapeutisch genug ist?

II. Über die Logik der Angst und die Angst hinter der Logik

Eine von der Begegnungshaltung der Wissenschaftler geprägte Wissenschaft, in der sich der Mensch im Erkennen (auch explizit) zu erkennen gibt, ist etwas Gefährliches: Je mehr ich mich als Mensch mit meinen Werten, meinen Glaubensinhalten, meinen Standpunkten, von denen aus ich z.B. die Perspektiven auf den wissenschaftlichen Betrachtungsgegenstand wähle, und meinen Begrenzungen zu erkennen gebe, desto mehr stelle ich zur Disposition, kritisiert, nicht verstanden und anerkannt, ja letztlich als Person nicht angenommen zu werden. Buber betont, daß im Augenblick der Begegnung jeder unendlich verletzbar ist. Da liegt es nahe, sich hinter dem formalen Gerüst akzeptierter Regeln zu verstecken, wie sie z.B. die wissenschaftliche Methodik jeder Fachdisziplin darstellt. Man kann dann zu tun, als könne man seinen Standpunkt geheimhalten, von dem aus man seine Beziehung zur Mitwelt herstellt, und als bräuchte lediglich die "Welt” mit einer sauberen Methodik eingefangen und abgebildet zu werden.

Die Analyse der Frage, was Menschen bewegen kann, den Beziehungsaspekt von Erkenntnis und Sprache zugunsten einer Abbildungsfunktion zu vernachlässigen, soll mit einem extremen Beispiel sprachlogischer Elaboriertheit begonnen werden, an dem mögliche Motive besonders deutlich werden: In seinem berühmten "Tractatus” kommt der junge Wittgenstein zu dem "Schluß” (im doppelten Sinne) des 7. Satzes: "Wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen”.

Es ist dies der Versuch, eines jungen genialen Denkers, die Grenzen der Welt an den Grenzen der Sprache und ihrer Logik festmachen zu wollen. Zwar gibt es bekanntlich auch bei Wittgenstein "etwas” jenseits dieser Grenzen, aber dies "zeigt sich” nur - und erscheint ihm mittels Sprache unerreichbar, unvermittelbar, ja sinnlos, wie letztlich alle Metaphysik und Philosophie. Bekanntlich hat Wittgenstein später, in höherem Alter, eine andere Sicht der Welterschließung und der Bedeutung von Sprache dabei entwickelt. Allerdings war dies für ihn kein Grund, seinen Tractatus "weiterzuschreiben” - und so ist dieses Werk denn ein scheinbar abgeschlossenes Dokument eines radikalen Philosophen geblieben. Gleichwohl ist seine Sicht, wenn auch nicht in dieser Radikalität, recht typisch für die heutige Wissenschaft. So charakterisiert und kritisiert z.B. H.-P. Dürr (1994: 90) auf die Frage, warum sich so wenige seiner Fachkollegen zu wissenschaftspolitischen Fragen äußern - etwa zur Sicherheitsdebatte über Atomkraftwerke - deren Haltung wie folgt: "Natürlich sind die meisten Alltagsprobleme für naturwissenschaftliche Aussagen viel zu kompliziert. Und viele Wissenschaftler vertreten ja auch die Auffassung, Wenn ich nichts exaktes sagen kann, dann sage ich lieber nichts.”

Vom "Tractatus” wissen wir nun, daß er weitgehend an der Front des 1. Weltkrieges verfaßt wurde, während Wittgenstein die Schrecken des Schützengraben-Krieges unmittelbar erleben mußte. Dort dürften sich ihm aber eigentlich ganz andere Erfahrungen sprachlichen Ausdrucks aufgetan haben, als sie im Tractatus abgehandelt werden: Schmerzensschreie Verwundeter und Sterbender, Laute von Wut, Verzweiflung, Resignation und Hoffnungslosigkeit angesichts des Grauens und der Sinnlosigkeit dieses Leides. Einem Psychotherapeuten stellt sich daher angesichts der Diskrepanz zwischen solchen Erfahrungen und der logisch-strengen Abstraktion des auf eine Idealsprache abgehobenen Tractatus die (für Psychotherapie typische) Frage: "Welche Funktion hatte das Schreiben des Tractatus - d.h. was sollte und konnte möglicherweise durch diese Art von wissenschaftlichem Tun vom Menschen Wittgenstein vermieden werden?” Psychotherapeuten gehen nämlich davon aus, daß ein wesentlicher Zugang zum Verständnis menschlichen Erlebens und Handelns in der Beachtung derjenigen Erfahrungen (einschließlich deren Symbolisierungen) liegt, die dem Menschen in einer Situation zwar möglich wären, die er aber abwehrt, weil sie für seine Person zu bedrohlich sind.

Man kann sich leicht vorstellen, daß eine intensive Beschäftigung mit dem Tractatus in dieser Situation zumindest für Zeitmomente Angst und Grauen aus dem Bewußtsein verdrängen konnte. Es wäre also denkbar und verständlich, daß in diesem existenziellen Gefordertsein die Grenzen der Logik und Vernunft dem Bewußtsein als ein Halt dienen sollten, um der Gefahr zu entgehen, daß die Grenzen der Realität (und die eigene Person) allzusehr "verrückt” werden.

Auch dies scheint nicht untypisch für Wissenschaft zu sein: Wenn man vorgibt, vor allem eine äußere Welt abzubilden, in welcher der Abbildende scheinbar nicht vorkommt, ermöglicht dies eine Distanzierung vom eigenen Erleben und eine Verschleierung eigener Motive. Ein solches Vorgehen macht unantastbarer und den Akteur weniger durchschaubar, als wenn in den Äußerungen die Beziehung des Sprechenden zu dem, wovon und worüber er spricht, auch explizit zum Ausdruck kommt. Schlechte Richter und Professoren neigen zu solcher Verschleierung und Verleugnung des Beziehungsapekts: Wenn sie einen Urteilsspruch erläutern oder die sogenannten Tatsachen ihres Faches darstellen, verbergen sie sich dabei hinter dem Gesetz oder der Methodik, um keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Sie versuchen sich dann vor der Antwort auf die Frage zu drücken: "Wo stehst denn Du, der uns dies verkündet?”

Der Aspekt des In-Beziehung-Tretens setzt hingegen voraus, daß man den eigenen Standpunkt mit reflektiert, von dem aus die Beziehung gestaltet wird, und daß man daher bemüht sein wird, die Weltsicht auch aus der Perspektive des Anderen und damit dessen Standpunkt und Beziehungsaussage hinreichend nachzuvollziehen. Dies ist allerdings gegenüber einer Sprache als Abbildung von Welt im Disput viel weniger "effektiv” und "durchsetzungsfähig”. Denn es spart offenbar viel Energie, wenn man vorgibt, die Welt in möglichst richtiger Weise abbilden zu wollen: Wer keine Perspektiv-Unterschiede berücksichtigt und den eigenen Standpunkt nicht relativiert, wer sich nicht auf sein Gegenüber einstellt sondern die eigene Erkenntnis für die einzig mögliche und wahre hält, der kann mit ungeteiltem Einsatz für diese vermeintliche Wahrheit fechten. Man kann dann die Weisheit Bubers ausblenden: "Entsprechend der logischen Struktur der Wahrheit kann nur eine von zwei Gegenpositionen wahr sein, aber in der Realität des gelebten Lebens sind sie untrennbar miteinander verbunden ... die Einheit der Gegensätze ist das Mysterium im innersten Kern des Dialogs”. Wenn man an dieser Realität gelebten Lebens nicht interessiert ist und den Dialog gar nicht will, wird man lieber die Kontroverse im Disput suchen.

Hierzu möchte ich ein Beispiel anmerken, das für mich ein Schlüsselerlebnis dieser Haltung darstellte: Auf einem großen Kongreß ("Geist & Natur” 1988) stellte sich Sir Karl Popper nach seinem Vortrag, in dem er den Segen abendländischer Kultur und industrieller Technologie für diese Welt gepriesen hatte, einigen Einwänden von ökologisch und ganzheitlich denkenden Kritikern. Popper argumentierte rhetorisch brillant; trotz zunehmenden Unbehagens und spürbarer Betroffenheit darüber, daß ein Wissenschaftler wie er - mit hoher Intelligenz, moralischer Integrität und intellektueller Redlichkeit - so taub sein konnte für die Probleme unserer Welt, war ich daher zunächst, wie wohl viele Zuhörer, von der argumentativen Schärfe dieses alten Mannes beeindruckt, mit der er seine Gegner niedermachte. Plötzlich jedoch wurde mir deutlich, daß diese Taubheit (die bei Popper bemerkenswerterweise auch somatisch als starke Schwerhörigkeit manifestiert war) unmittelbar mit seiner Wissenschafts- und Argumentationshaltung zusammenhing: Die rhetorische Brillanz der Popperschen Erwiderungen bestand nämlich gerade darin, auf die Argumente, Fragen und dahinterstehenden Anliegen gar nicht zu hören - also nicht darauf einzugehen und sich nicht auf den Prozeß des Verstehens einzulassen. Vielmehr ging es ihm darum, das Gesagte, teilweise sinnverfremdend, in Bausteine eigener Schlagfertigkeit umzumünzen. Ihm gelang so, die Argumente wie in einem Duell zu parieren und "unangefochten” auf der eigenen Sicht zu insistieren. Es wurde mir damals deutlich, daß dies geradezu typisch ist für das, was heute noch die vorherrschende Wissenschaft ausmacht: die Disputatio, das Streitgespräch, im Sinne einer Kontroverse, mit dem Ziel, in seiner Ansicht zu obsiegen, und sich dabei möglichst wenig durch Bemühen um Verständnis der anderen Position in der Zielstrebigkeit bremsen zu lassen, den eigenen Weg zu verfolgen.

Aus einer Haltung heraus, mit Sprache Beziehungen zu gestalten, und unter einer ganzheitlicheren Perspektive aber wäre klar, daß es nicht um das Gegeneinander und das Obsiegen einzelner Teile des Ganzen gehen kann, und daß die oben erwähnte "Effektivität” und "Durchsetzungsfähigkeit” einzelner Positionen kein unhinterfragbares Ziel sein darf. Vielmehr vermag gerade die Vielfalt unterschiedlicher Perspektiven und Ansichten in ihrer Integration zu komplexeren Einsichten zu führen. Die umfassende Vernetztheit unserer Welt und ihrer technischen Zerstörungspotentiale würden es erfordern, aufeinander zu hören und gemeinsam Lösungen zu finden, statt gegeneinander zu reden - d.h. statt des kontroversen "Disputare”, der Auseinandersetzung im Streitgespräch, wäre somit "Communicare”, das Zusammenwirken im Hinblick auf etwas Gemeinsames, in den Vordergrund zu stellen.

In diesem Sinne geht übrigens auch das o.a. Zitat von Dürr wie folgt weiter: "Demgegenüber bin ich der Meinung: Wenn ich nichts genaues darüber sagen kann, dann eben etwas Ungenaues. Ich behaupte nicht, daß ich richtig liege, aber daß ich ein Diskussionsangebot liefern kann”.

Während Popper sich in dem o.a. Beispiel offenbar vornehmlich an den Satz des Wissenschaftstheoretikers Paul Lorenzen gehalten hat, wonach die Logik sei der Kanon derjenigen Regeln, an die man sich halten müsse, wenn man ein Streitgespräch nicht verlieren will, geht es z.B. Buber nicht um das Gewinnen oder Verlieren eines Streitgespräches. Sondern er verweist auf den Dialog als Maxime und die "Realität des gelebten Lebens”. Selbstverständlich ist dies kein Plädoyer zur Abschaffung der Logik, sondern dafür, der Logik nicht den Primat in dem menschlichen (aber auch innerwissenschaftlichen) Bestreben, "gemeinsam die Welt zu verstehen” einzuräumen. Wie auch die Aussage des Neuen Testaments, daß das Gesetz für den Menschen da sei und nicht umgekehrt, kein Plädoyer für die Abschaffung aller Gesetze war. (Gleichwohl ist auch diese Aussage weiterhin eine hochaktuelle Forderung: Wie schon zu biblischen Zeiten berufen sich jene, die gerade die Macht haben, bei Vergehen gegen das Leben gern auf die "Gesetzmäßigkeit” ihres Tuns. Man denke nur an die deutsche Produktion von Tretminen für die dritte Welt oder an die französischen Atomversuche im Muroroa-Atoll).

Auch Dürr kann man so verstehen, daß ein Diskussionsangebot, d.h. die Einladung zum Dialog, eine andere Haltung offenbart als das Bemühen, sich deswegen an die Regeln der Logik zu halten, weil man ein Streitgespräch gewinnen will. Für diese andere Haltung freilich muß man - wie immer, wenn man sich im Rahmen gegenwärtiger Wissenschaft als Person zu erkennen gibt - die Angst überwinden, von den anderen Ängstlichen als "inkompetent”, "unqualifiziert” (oder wie auch immer die Vokabeln zur Abwehr und Abwertung heißen mögen) diskreditiert zu werden. Noch immer ist Abwertung die Hauptstrategie der Angstabwehr im Spiel der Wissenschaft.

Spätestens an dieser Stelle mag man sich die Frage stellen, ob Angst bzw. Angstabwehr nicht auch ein wesentliches Motiv dafür sein könnte, sich überhaupt dem Programm abendländischer Wissenschaft zu verschreiben und den Beruf des Wissenschaftlers zu wählen. So provokativ diese Frage vielleicht klingen mag: Sie ist zumindest keineswegs neu: So hat z.B. Maslow ein Kapitel seiner "Psychologie der Wissenschaft” mit dem Titel: "Die Pathologie der Erkenntnis: Angstmildernde Mechanismen der Erkenntnis” überschrieben, in einem anderen eine Liste von 21 "krankhaften”, "primär angstbedingten” Formen im Bedürfnis, "Erkenntnisse zu gewinnen, zu wissen und zu verstehen”, zusammengestellt. Ein weiteres Kapitel läßt er mit den zusammenfassenden Sätzen beginnen: "Wissenschaft kann demnach der Abwehr dienen. Sie kann primär eine Sicherheits-Philosophie sein, ein Absicherungssystem, ein kompliziertes Mittel, Angst zu vermeiden...

Bedenkt man die grundlegende Weltsicht der "Väter” der modernen abendländischen Wissenschaft, Francis Bacon, Rene Descartes und Isaac Newton, so dienen diese nicht gerade als Gegenbeispiel: Bacon propagierte die experimentelle Methode mit Bildern wie: "die Natur auf die Folter zu spannen, bis sie ihre Geheimnisse preisgibt”, "sie auf ihren Irrwegen mit Hunden hetzen” und sie "sich gefügig und zur Sklavin machen”. Diese Formulierungen zeugen nicht gerade von Souveränität, geschweige denn von einer achtungsvollen, dialogischen Haltung, in der Beziehung zur Mitwelt. Und auch die Hexenprozesse, aus denen diese Metaphern stammen (Bacon war u.a. Generalstaatsanwalt von König James I.), können eher als Versuche von Angstabwehr der mächtigen Männer verstanden werden: Angst vor dem Weiblichen, dem Archaischen, dem für sie Fremden, und Angst vor dem Verlust an Kontrolle.

Descartes Unterscheidung von res cogitans und res extensa (Salopp gesagt: zwischen geistiger und materieller Welt) führte dazu, daß z.B. in seinen Schulen die lebenden Organismen nicht nur mit Maschinen verglichen, sondern letztlich als nichts anderes als Maschinen behandelt wurden. So berichtete z.B. Nicolas Fontaine um 1700 von der cartesianischen Schule von Port-Royal, daß man dort Tiere an ihren vier Pfoten auf Bretter nagelte und sie dann bei lebendigem Leibe sezierte. Ihre Schmerzensschreie wurden von den Forschern nicht nur als "Lärm von Federn in Uhrwerken” gedeutet. Sondern, schlimmer noch, man machte sich auch noch über jene lustig, die "unwissenschaftlich” den Tieren Schmerzen unterstellten.

Bedenkt man, daß für menschliche Säuglinge und Kleinkinder Gefühlsansteckung und anthropomorphisierende Identifikation eher typisch sind (d.h. diese bei Schmerzensschreien, Weinen etc. mit gleichen Gefühlen reagieren), so muß den erwachsenen Wissenschaftlern eine bemerkenswerte Ausblendung und Abwehr gelungen sein. Dies erinnert in fataler Weise an die Rechtfertigung des Haltens und Mißhandelns von Sklaven durch "fromme” Amerikaner, nach der "Neger” eben keine "richtigen Menschen” wären und das "Liebe Deinen Nächsten” der Bibel natürlich nicht für sie gemeint sei. Es erinnert ebenso an die Ermordung von Millionen Juden in deutschen Konzentrationslagern durch, so die Beschreibungen, teilweise "liebevolle Familienväter”, oder an die Ausblendungen und Abwehrmechanismen bei den heutigen Folterern in aller Welt. Daß Deutsche und Japaner im 2. Weltkrieg an KZ-Häftlingen bzw. Kriegsgefangenen grausamste Menschen-Experimente zur "medizinischen Forschung” unternahmen, schließt den Bogen zur Wissenschaft wieder - auch wenn diese Extreme keineswegs als typisch für "die Wissenschaft” hingestellt werden sollen.

Isaac Newton letztlich, der als Leitfigur abendländischer Wissenschaft gilt, betonte insbesondere die Bedeutung mathematischer Abstraktion und kategorialer Verallgemeinerung. Der Einzelfall hat in dieser Sichtweise nur als Beispiel für etwas Allgemeines Wert, wie bereits oben mit dem Pauli-Zitat belegt wurde. Beispiele sind, wie schon Maslow hervorhebt, anonym, entbehrlich, nicht einzigartig, nicht unantastbar, sie haben keine eigenen, nur ihnen allein zukommenden Namen. Zu "Beispielen” wird daher ganz gewiß keine dialogische Beziehung hergestellt. Gleichzeitig dienen solche kategorialen Verallgemeinerungen als Basis für Regelmäßigkeiten und damit auch für Prognose und Kontrolle, und helfen somit wesentlich, die Angst vor dem stets Neuen, Unberechenbaren, zu vermindern.

Wenn es somit sicherlich auch andere Motive für die Beschäftigung mit Wissenschaft geben mag, und diese bei Wissenschaftlern je unterschiedlichen Stellenwert einnehmen, läßt sich inbezug auf die o.a. Frage, anders herum betrachtet, resümieren: Wer einzigartigen Begegnungen eher aus dem (kognitiven) Weg gehen möchte, wer seine Angst vor der Ungewißheit mit Kontrollbedürfnis zu überwinden sucht, wer sich persönlich eher hinter Logik, Methodik, und anonymer Beispielhaftigkeit zu verstecken wünscht, der findet seine Bedürfnisse nach Angstabwehr im Programm der abendländischen Wissenschaft nicht schlecht aufgehoben.


III. Logik und Psychologik

Die Motivation für das Bemühen, mit seiner Sprache möglichst methodisch sauber und neutral irgendwelche objektiven Fakten der Welt wiedergeben zu wollen, und sich dabei im Erkennen möglichst nicht zu erkennen zu geben, sondern sich hinter der Methodik zu verstecken, kann also in Angstabwehr begründet liegen. Eine Sprachverwendung, bei der hingegen Begegnungen und Diskussionen ein Wert per se eingeräumt wird, betont somit nicht so sehr die Semantik - also die Relation zwischen (Sprach-) Zeichen und bezeichneten Objekten - sondern vor allen die Pragmatik - also die Relation zwischen den Zeichen und ihren Benutzern.

Es wäre nach meiner Überzeugung bereits ein deutlicher Fortschritt, wenn der oben beschriebene Aspekt des "Communicare” in der Wissenschaft weitgehend das kontroverse "Disputare” ersetzen würde. Dies soll keineswegs bedeuten, die Unterschiede in den Perspektiven zu vernebeln oder in einem vordergründigen "Einklang” aufzulösen, bei dem Harmonie mit Homophonie oder gar mit Unisono verwechselt wird. Vielmehr könnte die Vielfalt der Perspektiven dialogisch noch stärker genutzt werden, der Komplexität der Phänomene mehr gerecht zu werden statt entscheiden zu müssen, welche Perspektive nun die einzig richtige sei. Auch bei wohlverstandener Harmonie tragen die Partialklänge zu etwas Komplexerem bei, ja gehen teilweise darin auf und entwickeln. dabei ggf neue Qualitäten. In Sonderbereichen der Wissenschaft ist dies bereits verwirklicht: So wäre es heute anachronistisch, darüber zu streiten, ob die "wahre” Natur des Lichts nun Wellen- oder Teilchencharakter habe (worüber man noch vor einem Jahrhundert streiten konnte). In den allermeisten Bereichen der Wissenschaft aber geht der unfruchtbare Streit um die "Wahrheit” von Partialansichten und um das Obsiegen der richtigen Perspektive unvermindert weiter. Z.B. tobt oft ein erbitterter Streit darüber, ob die "wahre” Natur einer bestimmten Krankheit nun somatischer oder psychischer Art sei. Die grotesken Formen, die diese Debatten gelegentlich annehmen, erinnern nur einmal mehr an diejenigen, in denen uns bisweilen auch andere angstneurotische Symptome begegnen. Hier könnte eine ganzheitliche Psychotherapie somit ein notwendiger Wegweiser für eine lebensgerechtere Wissenschaft sein.

Darüber hinausgehend aber kann die Kunst therapeutischer Sprachverwendung aber noch weiteres zum Gestalten von Beziehungen beitragen. Ein Tractatus, der einer Wirklichkeit in höherem Maße Rechnung tragen wollte, die über die Grenzen der Logik hinausreicht, könnte daher seine Fortsetzung - quasi als 8. Satz - sinngemäß so beginnen:

8.: Sprache im Dienste menschlicher Begegnung kann auch Unaussprechliches erfahrbar machen. Daher kann sinnvolle Welterfahrung durch Sprache - im Extremfall sogar durch semantisch sinnlose Sprache - vermittelnd gestaltet werden.

Als Erläuterungen dieses Extremfalls soll zunächst ein sehr gekünsteltes Beispiel dienen: In einem Lehrbuch der Logik findet sich die folgende Demonstration für einen "sinnlosen Satz”: "Grüne Quadrate schmecken bitter!”. Um nun deutlich zu machen, daß semantisch "Sinnloses” keineswegs pragmatisch "Sinnloses” bedeuten muß, kann man sich eine Szene ausmalen, in der ein Psychotherapeut und sein Klient - ein junger Wittgensteinianer, der die Grenzen der "Welt” allzusehr mit denen seiner angelernten Sprachlogik gleichsetzt - in einem Garten stehen. Plötzlich ruft der Therapeut jenes "grüne Quadrate schmecken bitter!” Vor Schreck über diesen (semantisch) völlig sinnlosen Satz, oder auch gelangweilt, weil er meint, von einem solchen "inkompetenten” und "unqualifizierten” (s.o.) Therapeuten nichts Neues erfahren zu können, tritt der Klient unachtsam einen Schritt zurück - und fällt in ein Wasserbecken. Der Therapeut hatte nämlich bemerkt, daß sein Klient am Rand des Beckens stand; und er wußte, daß dieser sich zwar nach der Erfahrung von Wasser sehnte, es aber gleichwohl bisher ängstlich vermieden hatte, hineinzutauchen.

Dieses Beispiel ist, wie gesagt, gekünstelt. Es macht aber den Aspekt deutlich, daß Sprache auch (im obigen Beispiel sogar: vorwiegend) als eine kognitive Umgebungsbedingung für heilsame Prozesse dienen kann. Hierbei geht es somit nicht so sehr um die Richtigkeit des Inhaltes, sondern um die unmittelbare Wirkung auf Lebensprozesse. Vergleichbar ließe sich auch die Bedeutung von sog. "Koans”, d.h. mit dem rationalen Verstand nicht lösbare Aufgaben bzw. Fragen ("Hua-Tou”), beschreiben, mit denen Zen-Meister ihren Schülern transzendente Erfahrungen vermitteln wollen - z.B. die Frage danach, wie das Klatschen mit nur einer Hand klingt. Ein weiterer vergleichbarer Bereich ist die Verwendung von Mantren im Matra-Yoga, bei dem der Weise seinen Schüler lehrt, ein (für diesen) "sinnloses” Mantra immer und immer wieder zu wiederholen - was völlig neue Erfahrungsräume eröffnen kann.

Ein sehr viel schlichteres aber treffenderes Beispiel für die therapeutisch wirkende Funktion von Sprache ist mir vor Jahrzehnten in Bubers Schrift "Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre” begegnet und hat meinen Weg nicht unwesentlich beeinflußt. Es beinhaltet für mich zugleich die fundamentalste und weitreichendste Antwort auf die Frage, was ganzheitliche Therapie heißen und wie sie Wegweiser für eine lebensgerechtere Wissenschaft sein könnte:

In der ersten Geschichte dieses Buches erzählt Buber, wie Rabbi Schneur Salman, der Raw (Rabbiner) von Reussen in Petersburg gefangen saß, und wie sich der Oberste der Gendarmerie zu ihm in die Zelle begibt, um einen angeblichen Widerspruch in der jüdischen Glaubenswelt aufzudecken:

Zuletzt fragte er: "Wie ist es zu verstehen, daß Gott der Allwissende zu Adam spricht: >Wo bist Du?<”. "Glaubt Ihr daran”, entgegnete der Raw, "daß die Schrift ewig ist und jede Zeit, jedes Geschlecht und jeder Mensch in ihr beschlossen sind?” "Ich glaube daran”, sagte er. "Nun wohl”, sprach der Raw, "in jeder Zeit ruft Gott jeden Menschen an: >Wo bist Du in Deiner Welt? So viele Jahre und Tage von den Dir zugemessenen sind vergangen, wie weit bist Du derweil in Deiner Welt gekommen?< So etwa spricht Gott: >Sechsundvierzig Jahre hast du gelebt, wo hältst du?<” Als der Oberste die Zahl seiner Lebensjahre nennen hörte, raffte er sich zusammen, legte dem Raw die Hand auf die Schulter und rief: "Bravo!” Aber sein Herz flatterte

Buber führt dazu u.a. aus: "Auf die sachliche Frage, die, mag sie hier auch ehrlich gemeint sein, doch im Grunde keine echte Frage, sondern nur eine Form der Kontroverse ist, wird eine persönliche Antwort erteilt, oder vielmehr, statt einer Antwort erfolgt eine persönliche Zurechtweisung”.

Nun mag man sich an der "Zurechtweisung” reiben, denn auf den ersten Blick erscheint eine Zurechtweisung weniger dem dialogischen Prinzip als der Haltung des Obsiegens in der Kontroverse zu entsprechen. Bedenkt man aber, daß in dieser Geschichte der Rabbi der Gefangene ist und nimmt die Reaktion des Hauptmanns als Maßstab für die Beurteilung, so findet man, daß es in dieser "Zurechtweisung” nicht um ein Obsiegen geht. Vielmehr ist diese durchdrungen von "Weisheit” und "Wieisung” auf den "rechten” Weg - dessen genaue Zielrichtung wohl nur der so Zurechtgewiesene selbst finden kann. Es geht also nicht um eine Zielvorgabe, sondern um die Aufforderung nach diesem Ziel überhaupt zu suchen.

Gerade in dieser Beschreibung Bubers wird das Elend besonders deutlich, wie heutige Wissenschaft jungen Studenten an den Universitäten allzu oft entgegentritt. Denn zur Charakterisierung dieser Studiensituation könnte man Bubers Beschreibung genau umdrehen: Auf eine persönlich relevante Frage, die ehrlich gemeint ist, erfolgt eine sachliche Antwort, die aber im Grunde gar keine echte Antwort enthält, sondern oft nur eine Zurechtweisung (hier nun aber im Dienste der Angstabwehr) ist - besonders dann, wenn die gestellte Frage droht, die Regeln der Logik und Methodik oder die Grenzen der Fachdisziplin (oder gar nur die des Professors) zu überschreiten. In einer solchen Studiensituation sind die Ziele dann durch die Koryphäen des Faches meist längst vorgegeben; Suchen erscheint oft unerwünscht und wird als ein Zeichen von Unsicherheit und Inkompetenz diskreditiert, während die möglichst perfekte Reproduktion der mit den Zielen kompatiblen Ergebnisse mit guten Noten belohnt wird. Daß eine solche Studiensituation den Dialog nicht fördert, liegt auf der Hand.

Für Psychotherapie hingegen ist die beschriebene Begegnung im Gefängnis typisch (wenn auch bei Buber idealtypisch verdichtet): Der Therapeut will von seinem Gegenüber mit seinen "Fragen” selten etwas wissen, was er nicht weiß - und selbst dann nicht aus bloßer Neugier oder um jenen etwas abzufragen - sondern er will, um nochmals Buber zu zitieren, "im Menschen etwas bewirken, was eben nur durch eine solche Frage bewirkt wird, vorausgesetzt, daß sie den Menschen ins Herz trifft, daß sich der Mensch von ihr ins Herz treffen läßt.”

Mit diesen Ausführungen sollte keineswegs die pragmatische gegen die semantische Sinnhaftigkeit ausgespielt werden - gewöhnlich sind beide Aspekte in Zeichenprozessen von Bedeutung. Entgegen der Einseitigkeit in weiten Bereichen der Wissenschaft, mit der die logisch-semantische Funktion von Sprache propagiert wird, sollte hier auf die Perspektive fokussiert werden, daß Sprache eben auch als eine relevante Umgebung verstanden und gebraucht werden kann - begleitend und gestaltend - in der Menschen Erfahrungen machen.

Im Rahmen von Wissenschaft finden wir diesen Aspekt noch am ehesten in den empirischen bzw. experimentellen Grundlagen eines Faches vermittelt: So und so müsse man vorgehen, um eine bestimmte Erfahrung zu machen. Wie aber bereits am Beispiel von Bacon und Descartes gezeigt wurde, kann diese Vermittlung von spezifischen Bedingungen für bestimmte Erfahrungen auf lebensfeindliche Abwege führen, wenn sie nicht zugleich vom dialogischen Prinzip getragen wird. Unter den Bedingungen der Angstabwehr verkommt ein Methodenkanon zudem oft zu dogmatischen Abgrenzungen des Erlaubten, statt Möglichkeiten bereitzustellen, um Erfahrungsräume zu vergrößern. Die Methoden dienen dann eher dazu, Erfahrungen auszugrenzen oder gar zu verhindern - besonders, wenn sie das gerade herrschende Weltbild des Faches in Frage stellen könnten.

Wieder finden sich auch hier die Parallelen zur psychotherapeutischen Erfahrung im Umgang mit Angstpatienten. So wird beispielsweise aus der Sicht der klientzentrierten Psychotherapie nach Carl Rogers das zentrale Störungskonzept, die Inkongruenz, damit beschrieben, daß Erfahrungen, die prinzipiell gemacht werden könnten, vermieden werden, um das Selbstkonzept nicht zu gefährden. Diese Inkongruenz wird als Angst gespürt.

Gleichzeitig, darin sind sich alle psychotherapeutischen Richtungen im Kern einig, hat die Entstehung von Angst und Inkongruenz etwas mit den Beziehungen zu tun, die ein Mensch erlebt hat. Vor allem kommt es auf die Beziehungen in den ersten Lebensjahren an, in denen die grundsätzlichen Strukturierungsprinzipien der Welterfahrung erworben werden (relativ natürlich zu den evolutionär erworbenen Vorstrukturierungen).

Wenn nun frühe Beziehungserfahrungen wesentlich sind für Inkongruenz und Angst, und in der bisherigen Argumentation Angst bzw. Angstabwehr als ein bestimmendes Moment für die Kontrollwünsche abendländischer Wissenschaft und die Vermeidung von dialogischer Begegnung herausgearbeitet wurde, so macht es Sinn, im folgenden einen genaueren Blick auf die Bedingungen zu werfen, unter denen Beziehungen hilfreich wirken bzw. unter denen eher Angst und Inkongruenz entstehen.


IV. Lebenshemmende und lebensfördernde Entwicklungsbedingungen

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Im Rahmen der Sozialisation in den modernen industriellen Gesellschaften wird an seine Entwicklung eine widersprüchliche Anforderung gestellt: Einerseits, im Sinne der auch gesellschaftlich immer bedeutsamer werdenden Individuation, erhält der Mensch die Botschaft: "Werde ganz Du selbst!” Andererseits dient ja gerade die Sozialisation dazu, den Menschen in die Gemeinschaft einzufügen, und dafür zu sorgen, daß er deren Realität, deren Werte, Normen sowie Sinn- und Regelvorstellungen möglichst weitgehend übernimmt - diese zweite Botschaft lautet somit: "Werde möglichst wie wir!”

Für beide Entwicklungsprozesse ist Verstanden-Werden eine zentrale Bedingung, welche die soziale Umgebung gewährleisten muß: Die Elterngeneration, die zunächst für die Sozialisation zuständig ist, beeinflußt diese Entwicklungsprozesse wesentlich über eine Mischung aus liebevoller Beachtung und korrigierender Kontrolle dessen, was der junge Erdenbürger an Gestik, Mimik, Handlungen, Sprache - kurz: an Ausdrucksverhalten - von sich gibt. Dies geschieht in der berechtigten Annahme, daß die nicht beobachtbaren Wahrnehmungen, Gedanken und Emotionen sich dann schon entsprechend anpassen werden - d.h., daß von außen erzwungenes und als "sinnhaft” vermitteltes Verhalten irgendwann auch intrinsisch motiviert wird. Dies ist ein Ideal üblicher Pädagogik. Dabei kann das Ausdrucksverhalten einerseits direkt restringiert werden - z.B. über das Verbot, bestimmte Gefühle wie Wut, Aggression, Schmerz (allzu stark) zu zeigen. Dies geschieht häufig genug. Aber noch weitaus häufiger findet eine solche Restriktion über ein Nicht-Verstehen statt. Dies unterläuft den Eltern (und anderen) oft nur unbewußt und unbeabsichtigt. Gleichwohl wirkt das Nicht-Verstehen nicht weniger massiv als direkte Verbote. Denn es ist für den Menschen ungeheuer wichtig, in seinem Ausdruck und den ihn begleitenden Kognitions-Emotions-Prozessen von anderen weitgehend verstanden zu werden. Seine Emotionen und die selbst wahrgenommenen Motive seines Ausdrucks müssen mit den von anderen unterstellten weitgehend übereinstimmen und sein sinnhaftes Handeln muß auch als "sinnvoll” rückgemeldet werden. Das bedeutet natürlich keineswegs, daß die Eltern z.B. seine Wünsche stets erfüllen müßten; aber es bedeutet, daß seine Wünsche zumindest verstanden und beachtet werden.

Aspekte seines Ausdrucks, bei denen dies systematisch unterbleibt, wird der Mensch zunehmend - und irgendwann faktisch ganz - unterlassen. Denn niemand kann auf Dauer "sinnlose” Handlungen setzen und Ausdrücke von sich geben, die "niemand versteht” ohne als "verrückt” definiert zu werden oder sich selbst so zu definieren. Niemand kann aber auf Dauer Aspekte "seines” Ausdrucks zurückhalten, ohne daß sich auf der Seite seiner Wahrnehmungen und der begleitenden Kognitions-Emotions-Prozesse Veränderungen abspielen, die sich dem Gesamtprozeß anpassen. Die Unterdrückung dieser Ausdrucks-Aspekte wird somit im Laufe der Zeit irgendwie "üblich” und "selbstverständlich” - muß also nicht immer wieder neu vor sich selbst verständlich gemacht und als schmerzvolle Unterdrückung erlebt werden. Die Strukturierungsprinzipien, nach denen der Mensch seine Welt wahrnimmt, bewertet, verarbeitet, und dies letztlich in Ausdrucksverhalten umsetzt, werden sich den Erfordernissen bzw. dem Mangel an Verständnis anpassen. Diese "Anpassungen”, besonders an die frühe Lebensgeschichte, haben Psychotherapeuten seit jeher als besonders relevant für das Verständnis von späteren Auffälligkeiten beschrieben - z.B. sind sie im Rahmen der Psychoanalyse mit Konzepten wie "Abwehrmechanismen” thematisiert worden. Sie werden zu wesentlichen Bestandteilen jener Strukturen, die den Prozessen der Wirklichkeitsverarbeitung und den Handlungen zugrunde liegen. Sie lassen sich von außen als diejenigen Muster beobachten, nach denen der Mensch dann später in neuen Situationen seine Erfahrungen gemäß seinen Erwartungen ständig neu re-inszeniert.

Bei einer pathologisch auffälligen Entwicklung ist ein solcher Mensch dann partiell aus den Lebensprozessen ausgeklinkt: vieles des prinzipiell Wahrnehmbaren wird so "verarbeitet”, daß es nur noch als Anstoß für innere Prozesse dient, die eher dem Ablaufen eines "inneren Filmes” gleichen, als daß sie den Gefordertheiten der Gesamtsituation gerecht werden. In Folge davon ist auch das Ausdrucksverhalten (einschließlich der Handlungen und Kommunikationen) dann primär als Reaktionen auf diese inneren Filme zu verstehen und fällt daher ggf. als "inadäquat” auf - manchmal sogar dem eigenen beobachtenden Bewußtsein: man versteht sich selbst nicht mehr und erlebt sich nur noch begrenzt auf die Prozesse des umgebenden Lebens bezogen. Es ist auch verständlich, daß ein solcher Mensch Situationen und Konstellationen zu meiden sucht, in denen er mit der Inkongruenz zwischen den möglichen Erfahrungen einerseits und den gemäß seiner Abwehrstruktur zulässigen Erfahrungen andererseits allzusehr konfrontiert werden würde. Denn, wie bereits gesagt, eine solche Inkongruenz wird als Angst erfahren, da plötzlich ihm selbst unverständliche Emotionen, Gedanken, Handlungstendenzen usw. in seinem Bewußtsein auftauchen. Ebenso verständlich wird daher, daß zur Vermeidung solcher schmerzlicher Konfrontationen dann zum Mittel der Kontrolle von Menschen, Situationen und sogar der eigenen Lebensprozesse gegriffen wird.

Diese Mechanismen sind keineswegs nur in so extremer Form und in auffällig "pathologischen” Dynamiken wirksam, sondern sie finden sich in mehr oder minder starkem Ausmaß bei allen Menschen. Gleichwohl ist bemerkenswert, wie verblüffend diese Mechanismen der Angstabwehr jenen Prinzipien entsprechen, die in der abendländischen Wissenschaft als "Tugenden” einer sauberen Methodik propagiert werden: Möglichst weitgehende Ausschaltung von Unvorhersehbarem und Unkontrollierbarem, Reduktion von Einflußvariablen, möglichst weitgehende Prognose der Ergebnisse von Handlungen, maximale Kontrolle dessen, was passieren kann, Verbergen der eigenen Motive und Emotionen hinter einer "richtigen” Methodik, Beschränkung der Erfahrungen auf jenen Bereich, der durch "zulässige” Fragen und Vorgehensweisen vorab definiert ist.

Im Gegensatz zu den eben beschriebenen ungünstigen Entwicklungsbedingungen wäre zu einer günstigen Entwicklung, so die Überzeugung ganzheitlicher Psychotherapie, "eigentlich” nichts besonders hinzu zutun. Denn der Mensch wird hier nicht als "geborenes Mängelwesen” angesehen, dem primär etwas "beigebracht”, fehlendes Verhalten antrainiert oder "richtiges” Denken beigebracht werden müßte (wenngleich solche begleitenden Aspekte zweifellos ebenfalls eine Rolle spielen). Vielmehr liegt der Hauptaspekt auf der Überzeugung, daß der Mensch sich seinen Fähigkeiten gemäß entwickelt und entfaltet, sofern ihm hierfür Raum gegeben wird und er sich insbesondere verstanden und angenommen fühlt. Es geht somit darum, die Bedingungen für dieses Wachstum der Persönlichkeit zu bieten.

Da der Begriff des "Wachstums”, der für die humanistische Psychologie typisch ist, in Verbindungen wie z.B. Wirtschafts-”Wachstum” pervertiert wird, sei betont, daß mit persönlichem Wachstum keineswegs eine ungehemmte Zunahme irgendwelcher Größen gemeint ist. Vielmehr schließt intaktes Wachstum den ständigen Kontakt mit klaren Grenzen ein. So wie ein Laubbaum in seinem Wachstum jeden Herbst seine Blätter abwirft und im Frühjahr neue hervorbringt, beinhaltet auch das Wachstum der Persönlichkeit ein ständiges "stirb und werde!” von wesentlichen Aspekten. Ebenso ist eine Orientierung an Modellen und Werten zweifellos hilfreich, sofern diese stützend und nicht erstickend erlebt werden können. Gleichwohl wird der Mensch in der ganzheitlichen Psychotherapie auch nicht als ein Wesen begriffen, das von Natur aus "böse” wäre, oder das seine ihm innewohnenden Aggressionen und Triebe nur durch Unterdrückung von Seitens des Verstandes zähmen könne.

Eine solche optimistische Sichtweise des Menschen scheint auf den ersten Blick in krassem Widerspruch zu dem unsäglichen Leid und Unheil zu stehen, das im Laufe der Geschichte und auch in der Gegenwart anderen Menschen und der gesamten natürlichen Mitwelt durch Menschen zugefügt wurde und wird. Zur Auflösung dieses Widerspruches ist es hilfreich, sich zunächst zu vergegenwärtigen, daß "Natur” weder gut noch böse sein kann, sondern einfach nur so ist, wie sie ist: Sie kann gar nicht anders, als ständig im Einklang mit sich selbst zu sein. Im Menschen jedoch hat die Natur die Fähigkeit entwickelt, sich selbst reflektieren und damit als Planenden, Handelnden und Wertenden begreifen zu können. Diese Entscheidungsfreiheit (immer nur im Rahmen der jeweiligen Bedingungen) hat allerdings ihren Preis darin, daß der Mensch auch aus diesem selbstverständlichen Einklang mit sich selbst herausgefallen ist - es gibt keinen Weg zurück in den Stand der Unschuld, wie es Heinrich v. Kleist in der Parabel "über das Marionettentheater” so treffend ausgedrückt hat. Die selbstverständliche und unschuldige Einheit mit der Natur ist durch die Entscheidungsfreiheit ein für allemal zerbrochen. Vor diesem Hintergrund kann der Lebensweg, wie er der ganzheitlichen Psychotherapie als Ideal vorschwebt, als Unterfangen verstanden werden, die Einheit mit uns selbst, die eine Einheit mit der Natur ist, wieder zu finden - die Zerbrochenheit auf dem langen Weg des Lebens schrittweise wieder zu heilen. Wobei nochmals an den Hinweis des Psychotherapeuten Dürckheim erinnert sei, daß "Therapeut” ursprünglich bedeutete: "Begleiter auf diesem Weg zum Heil”.

Ich bin überzeugt, daß auch die Angst der Wissenschaftler davor, sich mehr auf dialogische Beziehungen einzulassen, ein Ausdruck dieses Unheils ist - ebenso wie jenes mit Hilfe dieser Wissenschaft erzeugte Zerstörungspotential, das bereits vielerorts manifestes Unheil stiftet.

Ein sehr bedenkenswertes Beispiel dafür, wie der Verzicht auf die Einheit mit der Natur (wenn auch nur als unerreichbares Ziel) zugunsten eines vordergründigen Effektivitätsdenken auf Irrwege führt, findet sich bereits bei Immanuel Kant in seiner Einleitung zur "Kritik der reinen Vernunft”, wo es heißt: "Die leichte Taube, indem sie im freien Fluge die Luft theilt, deren Widerstand sie fühlt, könnte die Vorstellung fassen, daß es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde.” Dieses Beispiel Kants ist nicht nur eine gute Metapher dafür, wie ein scheinbar "unliebsamer” Widerstand bei genauerer Betrachtung das tragende Moment des Lebens sein kann. Vielmehr läßt sich, im Bild bleibend, fragen, was wohl passieren würde, wenn der Wunsch der Taube nach größerer "Effektivität” erfüllt würde: Zweifellos würde sie wie ein Stein, bzw. wie ein "Super-Falke”, vom Himmel stürzen. Man mag darüber nachsinnen, ob nicht auch in anderen Bereichen der Hang zur Effektivität und die Mißachtung des Eingebundenseins in die Natur aus "Tauben” die gefürchteten "Falken” werden läßt.

Die oben gewählte Formulierung, daß aus der Sicht ganzheitlicher Psychotherapie "eigentlich” nichts besonders zu den Entwicklungsmöglichkeiten hinzu getan werden müsse, trägt mit dem "eigentlich” den realistischen Bedingungen dieser Welt Rechnung: So haben Psychotherapeuten vorwiegend mit Menschen zu tun, denen solche Bedingungen nicht gewährt wurden oder mit Menschen (besonders im Rahmen der Paar- und Familientherapie), die sich gegenseitig aufgrund ihrer eigenen persönlichen oder koevolutionären Entwicklung diese Bedingungen nicht gewähren können. Daher ist die weitaus wichtigste Haltung des Therapeuten in der personzentrierten Psychotherapie nach Carl Rogers eine bedingungslose Wertschätzung des Klienten (nicht zu verwechseln mit einer Zustimmung zu allen dessen Handlungen) sowie das redliche Bemühen, diesen in seinen tiefen Emotionen, Werten und existenziellen Fragen zu verstehen. Der Klient erfährt dabei u.a., daß er und seine "unverstandenen” Äußerungen so wichtig genommen werden, daß er zunehmend Mut bekommt, auch sich selbst - mit seinen Wahrnehmungen und Äußerungen - wichtig zu nehmen. Dies bezieht sich insbesondere auch auf jene Erfahrungen, die ihm Angst machen und die er abwehrt, um sein Selbstkonzept nicht zu gefährden. Unter den therapeutischen Bedingungen aber kann der Klient diese Erfahrungsaspekte zunehmend zulassen und in sein Selbstbild integrieren, womit die Inkongruenz schrittweise vermindert wird.

Obwohl die Komplexität der ablaufenden Prozesse in diesem Rahmen natürlich nicht im Detail nachgezeichnet werden kann, sollte deutlich sein, daß "Interventionen” in der ganzheitlichen Psychotherapie nicht darin bestehen, "besseres”, "angepaßteres”, "gesünderes” Verhalten, "richtigeres” Denken etc. von außen zu instruieren. Vielmehr wird davon ausgegangen, daß die therapeutische Gestaltung von "kognitiv-emotionellen Umgebungsbedingungen” ausreicht - Bedingungen unter denen Patienten Mut und Möglichkeiten finden, ihre Gefühle, Bedürfnisse, Sehnsüchte und Werthaltungen zu erforschen, sie zu hinterfragen und Veränderungsmöglichkeiten zu erproben. Wenn dies gelingt können sie eine ihren Bedingtheiten (körperlicher, psychischer, sozialer und materieller Art, soweit diese nicht mitveränderbar sind) angemessenere Lebensform selbst verwirklichen.

Es scheint angebracht, hervorzuheben, daß es sich bei der hier vertretenen Sichtweise keineswegs um irrationale Wunschbilder humanistischer Therapeuten handelt. Zwar besteht immer noch eine faktische Vorherrschaft solcher Psychotherapie-Forscher, die unter Berufung auf das, was sie für Naturwissenschaft halten, eine möglichst präzise Ausgangsdiagnostik und daraus abgeleitete präzis geplante, kausal wirkende Interventionen fordern. D.h. es soll möglichst genau nach jenen Prinzipien verfahren werden, deren Übereinstimmung mit den Mechanismen neurotischer Angstabwehr oben herausgearbeitet wurde. Im Gegensatz dazu haben sich aber gerade die modernen Naturwissenschaften von dem Glauben an die Berechenbarkeit, Planbarkeit und Regelbarkeit dieser Welt verabschieden müssen. Dies gilt nicht nur für die Phänomene, die mithilfe der Quantentheorie beschrieben werden, und die von manchen noch als "Sonderbereich” von Wissenschaft gedeutet werden, um ihnen und den damit deutlich gewordenen Grenzen der Erkenntnis und Machbarkeit die Alltagsrelevanz abzusprechen.

Vielmehr zeigt die derzeit in vielen Disziplinen heftig diskutierte Theorie nichtlinearer dynamischer Systeme, daß schon einfachste (nichtlineare) Prozesse "chaotisch” werden können, d.h. dann in ihrem Langzeitverhalten unberechenbar sind. Diese Prozesse sind extrem sensibel gegenüber kleinsten Veränderungen der Randbedingungen und dem Wechselspiel von Stabilität und Instabilität unterworfen. Das Entstehen von Strukturen bzw. deren qualitative Veränderung (sogenannte "Phasenübergänge”) wird im Lichte der Selbstorganisationstheorien neu verstanden, und wirkt sich auf den Umgang mit solchen Systemen: Lokale, linear-kausal geplante Interventionen sind in der Regel nicht möglich, bzw. sie führen zu ganz anderen Ergebnissen, als vermutet - eine schmerzhafte Erfahrung aus allzu kurzsichtigen Eingriffen in Biosysteme, gescheiterten "Entwicklungshilfe”-Programmen und vielen anderen Interventionen, die sich aufgrund von komplexen Vernetzungen der Systemkomponenten in ihrer Wirkung unberechenbar fortpflanzen und ggf. auf den "Verursacher” zurückschlagen.

Dem science-fiction-Argument, nur solche Interventionen als "wissenschaftlich” gelten zu lassen, bei denen der Weg von genauer Ausgangsdiagnostik zu einem präzise definiertem Endzustand kausal nachgewiesen ist, wäre daher entgegenzuhalten, daß schon bei so simplen Systemen wie einem Doppelpendel - mit Ausnahme von Sonderbedingungen - die Bewegungsbahn eines Massepunktes nicht berechnet bzw. prognostiziert werden kann. Ebenso sind zentrale Teilprozesse innerhalb jeder Zelle - z.B. der Zitrat-Zyklus - nichtlinear, und es ist daher mit Phasenübergängen zu rechnen. Da für die Betrachtung von Lebensprozessen Nicht-Linearität typisch ist, ist den Erkenntnissen moderner Systemtheorie auch nicht so leicht die Bedeutsamkeit für viele lebensrelevante Phänomene abzusprechen, wie z.B. den Erkenntnissen der Quantenphysik. Jedenfalls hat die klinische Psychologie bisher nicht belegt, warum der Mensch bzw. dessen Krankheitsdynamik so viel simpler "funktionieren” soll als das o.a. Doppelpendel, bzw. warum Probleme, die für Teilprozesse innerhalb einer einzigen Zelle nicht gelöst sind, so viel einfacher werden sollenm, wenn man die Betrachtung auf Billiarden von Zellen und -verbänden erweitert.

Gerade die Entwicklung der modernen Selbstorganisationstheorien kann als ein treffendes Beispiel dafür dienen, welchen Einseitigkeiten wissenschaftliche Forschung unterliegt, wenn der berechtigte Wunsch nach Sicherheit und Orientierung ausschließlich über Kontrolle zu realisieren versucht wird:


V. Chaos und Gestalt - oder: die Angst vor der Kontrollosigkeit

Es gibt wohl kaum etwas, was den Menschen mit mehr Furcht und Schrecken erfüllt als Chaos - dessen etymologische Bedeutung der Duden (Bd.7) als "ungeformte, gestaltlose Urmasse der Welt, Auflösung aller Werte, Durcheinander” ausweist. Entsprechend tauchen denn auch in vielen Schöpfungs- und anderen Mythologien, in Märchen und Sagen, in der Alltagssprache bis hinein in wissenschaftliche Abhandlungen, im Zusammenhang mit den Beschreibungen vom Anfang und vom Ende aller Zeiten Vorstellungen dieses Chaos auf. Sogar die Gegenwart menschlicher Lebenswelten scheint nur ein unvollkommenes Bollwerk gegen das allgegenwärtige Chaos zu sein. Jederzeit und überall drooht es von den Randbereichen dieser Lebenswelten her wieder in diese einzubrechen. Sei es beim Individuum, im Zusammenhang mit dem, was Kliniker z.B. psychotische Einbrüche nennen. Seien es im Sozialgefüge jene Phänomene, welche viele Politiker und sogenannte "Ordnungsmächte” gern als Rechtfertigung für Maßnahmen anführen, um eben jenes "Chaos” zu vermeiden oder zumindest in Schach zu halten. Oder sei es im Zusammenhang mit ungebändigten Naturkräften, die in Form von Hurrikanen und Flutkatastrophen über uns hereinbrechen oder die in Form nicht geplanter "Stör-Variablen” bei Staudammbrüchen, Chemieunfällen oder Reaktorkatastrophen immer wieder die Grenzen menschlicher Technologie-Beherrschung (um nicht von der Hybris der "Natur-Beherrschung” zu reden) demonstrieren.

Aus dieser Perspektive betrachtet sind menschliche Lebenswelten - ja sind alle Formen des Lebens schlechthin - dem Chaos abgerungen und müssen in einem fortwährenden Kampf gegen dessen Einbrüche verteidigt und aufrechterhalten werden. Dabei haftet dann der evolutionär-kosmologisch nun einmal erreichten und erfahrbaren Ordnung etwas "Einmaliges” vorwiegend nur in dem Sinne an, daß sie, bestenfalls, so erhalten und konserviert werden könne und müsse.

Diese Vorstellungen einer, bestenfalls, konservierenden Möglichkeit des Umgangs mit Ordnung, bei der nur durch ständige Aufmerksamkeit und in fortwährendem Kampf die Kräfte des Chaos mühsam in Schach gehalten werden können, paßte immer schon so vorzüglich in die Interessen-Ideologien der Mächtigen und Reichen, daß ihre Verbreitung viel vehementer unterstützt wurde, als andere Erfahrungen und Konzepte. Denn wenn "Man(n)” sich der Herrschaft bemächtigt hat und diese für sich und seine Nachkommen (biologischer und/oder ideologischer Art) erhalten will, ist es nützlich, konservativ das "Sein” der Ordnung gegenüber dessen "Werden” zu betonen. "Man(n)” neigte somit dazu, Gesetz und Ordnung als etwas Göttliches (und damit Unhinterfragbares) darzustellen, sich als deren unmittelbarer Vollstrecker auszugeben, und sich als ein Bewahrer (oder gar jemand, dem diese Schöpfung "gegeben” wurde) aufzuspielen.

Gegen diese Ideologie stand aber seit jeher die Erfahrung der überwiegenden Mehrheit der Menschen, daß sich Ordnungen selbstorganisiert entwickeln: Die Mutter, die ein Kind unter dem Herzen trägt, der Bauer und der Gärtner, sie alle machen alltäglich die Erfahrung, daß die komplexen Ordnungen, die sie heranwachsen sehen, durch willkürliche Eingriffe eher behindert als gefördert werden und keinesfalls als Ergebnisse ihrer Gestaltungsmacht zu verstehen sind. Sie wußten immer schon intuitiv, daß ihnen nicht die "Law-and-Order”-Vorstellungen der Reichen und Mächtigen oder andere Prinzipien der Kontrolle dieser Prozesse helfen könnten, sondern daß sie nur in verständnisvollem Bemühen um Übereinstimmung mit und in weitgehendem Vertrauen auf das (nun ganz anders zu verstehende) "Law and Order” in der Natur bestenfalls versuchen können, diese natürlichen Prozesse zu unterstützen, welche aus sich heraus die Ordnung entfalten.

Es ist daher schon bemerkenswert, daß die abendländische Wissenschaft so lange unter Ausblendung der überall vorfindlichen Phänomene natürlicher Ordnung und Selbstorganisation so einseitig der "Law-and-Order”-Ideologie der Mächtigen gefolgt ist, indem sie ausgiebig und präzise Prozesse des Zerfalls von Ordnung in Unordnung untersuchten. Dies war nämlich u.a. der Gegenstand der Thermodynamik des 19. Jahrhunderts (die allerdings auch für Fragen effizienter Energie-Umsetzung bei maschineller Arbeit relevant wurde). Entsprechend wurden vorwiegend Interventions-Technologien entwickelt, bei denen der belebten und unbelebten Natur bestimmte Vorstellungen von "Ordnung” aufgezwungen werden. Nicht zufällig wurden gleichzeitig in allen Wissenschaftsdisziplinen, von der Physik über die Medizin bis hin zur Psychologie, alternative Zugangsweisen im Umgang mit der "Welt” erfolgreich unterdrückt. Dabei waren neben den eben angeführten Alltagserfahrungen hinsichtlich des ständigen Entstehens und Ausdifferenzierens von natürlicher Ordnung seit vielen Jahrzehnten auch in speziellen Bereichen der Naturwissenschaft längst Phänomene bekannt, welche zu einer Auseinandersetzung mit spontaner Ordnungsbildung hätten führen müssen. So ist beispielsweise das Phänomen der Benard-Instabilität, bei der sich auch unter Laborbedingungen in Abhängigkeit von der Temperaturdifferenz zwischen unterer und oberer Grenzschicht einer Flüssigkeit plötzlich selbstorganisiert makroskopische Bewegungsrollen mit hexagonalem Querschnitt ausbilden, bereits seit etwa einem Jahrhundert bekannt.

Nun könnte man zwar einwenden, daß die Mathematik, die diese Phänomene der Ordnungsbildung beschreibt (oder genauer: den Beschreibungen selbst wieder zugrunde liegt), keineswegs trivial ist. Dies ist zwar richtig, kann als Einwand aber nur sehr bedingt überzeugen: Die Leistungen der Mathematik, als "Hilfestellung” für die Erforschung in anderen Bereichen der Physik, Chemie und Technik (z.B. spezielle Entwicklungen der Differential- und Integralrechnung) sind ebenfalls nicht trivial - oder pointierter: Das Verständnis von Thermodynamik erfordert nicht weniger Intelligenz als das von Selbstorganisation. Wichtiger noch: Grundlegende Arbeiten zu dem, was heute die mathematischen Grundlagen der Theorie nichtlinearer Systeme betrifft, sind bereits im letzten Jahrhundert von Henri Poincaré (1854-1912) geleistet worden; weitere zentrale Beiträge sind von Gaston Julia (1893-1978 einem Schüler Poincarés) und Pierre Fatou (1878-1929) gegen Ende des 1. Weltkrieges veröffentlicht worden. Diese Arbeiten gerieten aber weitgehend wieder in Vergessenheit.

Wenn man dann noch in den Biographien nachliest, welchen Mißachtungen die heute in der Chaos-Forschung berühmten "Väter” wie Mandelbrot (der Schöpfer der fraktalen Geometrie - aufbauend auf Julia und Fatou) oder Feigenbaum (Entdecker der Universalität der "Feigenbaum-Konstanten”) noch vor zwei bis drei Jahrzehnten bei der Einführung ihrer Konzepte ausgesetzt waren, so kann dies als ein weiterer Beleg dafür gesehen werden, mit welchem Vermeidungsverhalten Wissenschaftler lange einer angemessenen Auseinandersetzung mit solchen Konzepten aus dem Weg gegangen sind.

Als Konsequenz wurde den Prozessen autonomer Ordnungsbildung, Entfaltung, Kreativität sowie selbstheilendem und selbstbeschränktem Wachstum von der main-stream-Wissenschaft bis vor rund zwei Jahrzehnten kaum Beachtung geschenkt. Holistische, ganzheitliche, organismische Anschauungen - wie z.B. auch die Gestaltpsychologie - fristen trotz zunehmender Würdigung von Selbstorganisationskonzepten besonders in Physik und Chemie (z.B. Chemie-Nobelpreis 1977 für selbstorganisierende Prozesse im Zusammenhang mit "dissipativen Strukturen” an Ilya Prigogine) in manchen Disziplinen der akademischen Wissenschaft bis heute eher ein Dasein am Rande, in der Medizin oder der Psychologie wurden diese Entwicklungen sogar bisher kaum wahrgenommen.

So ist es denn auch kein Zufall, daß sich in den gegenwärtigen Debatten im Zusammenhang mit dem Psychotherapeuten-Gesetz Verhaltenstherapie und Psychoanalyse auf Kosten anderer Richtungen in den Vordergrund spielen konnten: Der Verhaltenstherapie liegt im Kern eine interventionistische, auf Kontrolle ausgerichtete, Ursache-Wirkungs-Technologie zugrunde, während in der klassischen Psychoanalyse die o.a. "Naturkräfte” in Form der Triebe "Eros” und "Thanatos” im ES vom &UUML;BER-ICH in Schach gehalten und zum ICH integriert werden müssen. Auch wenn diese Konzepte heute weitaus differenzierter gehandhabt werden, setzen sie sich doch in ihrem Bestreben, Ordnung vor allem durch "ordnende Eingriffe” und Kontrolle aufrecht zu erhalten bzw. wieder zu schaffen, deutlich von wachstums- und entwicklungsorientierten Richtungen ab, die der Selbstgestaltung und Selbstordnung Entfaltungsräume ermöglichen wollen (wie z.B. Gesprächspsychotherapie, Gestalttherapie oder Familientherapie).

Ein Umdenken von Erklärungsmodellen der Ordnung, die auf ständiger Intervention und Kontrolle beruht, zum Gestaltprinzip, bei dem sich Ordnung in Relation zu einem komplexen Feld selbst entfaltet, fällt daher offenbar auch heute noch vielen Wissenschaftlern schwer. Letztere Erklärungsmodelle setzen allerdings verstärkte Einsicht in die Grenzen der Machbarkeit, Kontrolle und Prognose vor allem aber auch ein Stück Vertrauen in die "Natürlichkeit” von Entwicklungsprozessen voraus - eine Haltung, die aufgrund unserer bisherigen Analyse nicht gerade als typisch für die abendländischer Wissenschaft angesehen werden kann.

VI. Die Grundhaltung ganzheitlicher Psychotherapie

Bereits recht einfache physikalische und chemische Systeme erfordern im Rahmen der modernen System- und Selbstorganisations-Theorien einen Umgang, bei dem in (Be-)Achtung der autonomen Entwicklungsmöglichkeiten Bedingungen gewährleistet werden, die einer Entfaltung der den Systemen inhärenten Möglichkeiten förderlich sind. Einfache Ursache-Wirkungs-Beziehungen gelten hier nicht mehr allgemein, statt dessen können kleinste quantitative Veränderungen relativ unspezifischer Randbedingungen zu qualitativen Sprüngen und spezifischen Strukturänderungen (Phasenübergängen) führen.

Dem Umgang mit den weitaus komplexeren Organismen der menschlichen und nicht-menschlichen Mitwelt sollte daher eigentlich keine einfachere, deterministischere und reduktionistischere Sichtweise zugrunde gelegt werden. Dennoch wird auch heute noch in gängigen Lehrbüchern der Psychologie viel häufiger und ausführlicher auf ein klassisches Konditionierungsexperiment verwiesen, bei dem einem kleinen Jungen ("Albert”) Angst vor einer weißen Ratte ankonditioniert wurde, als auf das Scheitern solcher Experimente selbst in "typischen” Tierexperimenten. Bereits 1961 aber hatten zwei ehemals begeisterte Mitarbeiter von B.F. Skinner in einem Buch mit dem bezeichnenden Titel "The Misbehavior of Organisms” von ihren jahrzehntelangen Mißerfolgen einer kommerziellen Umsetzung der Skinnerschen Konditionierungs-Konzeption bei der Tierdressur berichtet: "After 14 years of continued conditioning and observation of thousands of animals, it is our reluctant conclusion that the behavior of any species cannot be adequately understood, predicted, or controlled without knowledge of its instinctive patterns, evolutionary history and ecological niche

Vor diesem Hintergrund hat auch die Psychotherapie zu beachten, daß viele der für sie relevanten Lebens- und Erlebens-Prozesse sich in selbstorganisierter Autonomie entfalten und sich damit designhaften, linear-kausalen Interventionsversuchen widersetzen, indem sie nur die ihnen bereits inhärenten Strukturmöglichkeiten verwirklichen. Eine solche Psychotherapie ist - wie jede fundierte systemtheoretische Sichtweise - geradezu zwangsläufig ganzheitlich, denn die Ausgrenzung eines "Systems” (unterhalb der gesamten "Weltevolution”) und die Trennung zwischen "System” und "Umwelt” ist ein Artefakt, dessen Konstruktion für unseren begrenzten menschlichen Geist im Hinblick auf die Beantwortung bestimmter Fragen notwendig ist und sinnvoll sein kann. Gleichwohl ist wichtig, sich dieser artifiziellen Begrenzung bewußt zu sein.

Ganzheitliche Psychotherapie bedeutet, dem anderen und seiner Weltsicht - wie "verrückt”, "pathologisch” oder fremdartig sie uns auf den ersten Blick auch erscheinen mag - Achtung entgegenzubringen, als einer Entfaltung von Leben unter gegebenen (und von uns allen mißgestalteten) Bedingungen.

Zum konkreteren Verständnis dessen, was mit "Achtung” gemeint sein soll, möchte ich als unterschiedliche Aspekte, in denen sich diese Achtung ausdrückt, "Zuwendung”, "Begegnung” und "Vertrauen” thematisieren und im folgenden kurz charakterisieren. Dabei gilt zu beachten, daß hier die therapeutische Beziehung als Modell für die Beziehung zwischen Menschen allgemein - und diese wiederum als Modell für die Beziehung auch zur nicht menschlichen Mitwelt - verstanden wird. Denn entsprechend dem Tenor dieses Beitrages ist die Beziehung zu den Mitmenschen ein Ausdruck der Beziehung zur Welt insgesamt, dessen grundsätzliche Strukturen sich besonders in den frühen Beziehungserfahrungen bilden (relativ natürlich u.a. zur Gesellschaft und Kultur):

Zuwendung beinhaltet Ruhe und Gelassenheit, mit der der andere betrachtet wird - ohne sich von der Vorstellung leiten zu lassen, eingreifen, korrigieren oder verändern zu müssen. Vielmehr geht es darum, mit Neugier und Interesse diese einmalige Lebens-Manifestation in möglichst vielen Facetten "sehen” zu wollen - ohne Ausblendung, Verzerrung, Ignorierung, Umdeutung von Teilen, die einem persönlich nicht "passen” (d.h., die sich als Bausteine nicht unmittelbar in das eigene Weltbild einfügen lassen). Sehr hilfreich ist dabei m.E. die Leitfrage: Wie mag es jemandem gehen, der das sagt, was er sagt (bzw. der sich so verhält, wie er sich verhält ?).

Indem Menschen wie LaoTse, Buber oder Rogers einerseits diesen Nicht-Interventionismus gepredigt, andererseits den Lebensweg vieler Mitmenschen in hohem Maße beeinflußt haben, wird deutlich, daß sich diese Haltung keineswegs ein teilnahmsloses Zuschauen ist. Vielmehr bedeutet achtungsvolle Zuwendung, sich der Verantwortung in den vielfältigen Rollen und Facetten des Eingebundenseins in dieser Welt nicht zu entziehen, sondern diese durchaus als Anfragen zur Mitwirkung zu verstehen. Der Horizont freilich, vor dem die Antworten auf solche Anfragen gesucht werden, ist bei dieser Haltung dadurch gekennzeichnet, daß versucht wird, den Gefordertheiten der Gesamtsituation nach bestem Wissen und Gewissen gerecht zu werden - d.h. es schwingt immer auch die Frage im Sinne der o.a. Deutung Bubers mit: Adam, wo bist Du? Daß unsere begrenzte menschliche Einsicht in diese Gefordertheiten von Gesamtsituationen auch Scheitern und Schuld ermöglicht, ist der Preis für die Entscheidungsfreiheit.

Begegnung beinhaltet, sich mit seiner ganzen Person und Lebensgeschichte einzubringen (wobei zwischen "Privatem” und "Persönlichem” ein großer Unterschied besteht - denn Privates des Therapeuten gehört in der Regel nicht in eine Therapie, wohl aber alles Persönliche). Begegnung bedeutet aber auch, sich als aufrichtiges Gegenüber einzubringen und so Grenzen deutlich werden zu lassen. Eine Begegnung findet immer an den Kontaktgrenzen statt, was Gelegenheit gibt, diese zu erfahren, zu spüren, zu überprüfen. Da dies für alle Beteiligten gilt, ist der Therapeut gefordert, sich einerseits selbst als Grenze für das Erleben des Klienten zu setzen, andererseits seine Bereitschaft und Fähigkeit zu kultivieren, ständig die eigenen Grenzen in Frage zu stellen und neu zu erfahren.

Vertrauen beinhaltet die Einsicht, daß Wachstums- und Veränderungsprozesse als Entfaltung und Ausdifferenzierung von Vorhandenem stattfinden, was durch "ungünstige” Bedingungen behindert und durch "günstige” gefördert werden kann. Der Mensch wird (nochmals gesagt) demnach nicht als "Mängelwesen” begriffen, dem durch Erziehung, Therapie etc. einfach additiv etwas hinzugefügt werden kann - so wie man eine Blume nicht dadurch zum Blühen bringt, daß man Blütenblätter anklebt, oder die Knospe zur "richtigen” Form zurechtzerrt, sondern bestenfalls auf die Bedingungen (Sonne, Wasser, Nährstoffe) zur Entfaltung der ihr eigenen Form achtet (z.B. einen Bretterzaun, der die Sonne verdeckt, entfernt). Vertrauen meint aber auch, dem anderen grundsätzliche Redlichkeit zu unterstellen - und faktisches "Widersetzen”, "Täuschen”, "Hintergehen” etc. in der Therapie als Ausdruck von im bisherigen Leben erworbenen Behinderungen und Hindernissen auf dem jeweiligen Weg zu verstehen (wobei "verstehen” nicht mit "gutheißen” verwechselt werden darf).

Es ist nun natürlich keineswegs mein Plädoyer, die eben kurz charakterisierte Grundhaltung ganzheitlicher Psychotherapie einfach für die Wissenschaft zu übernehmen - so etwas kann mit "Wegweiser” auch nicht gemeint sein. Gleichwohl soll im folgenden Exkurs nochmals verdeutlicht werden, wie weit die abendländische Wissenschaft von dieser Grundhaltung entfernt ist.

VII. Das Problem der Dignität

Was dem Kaufmann und Banker die Bonität, ist dem Wissenschaftler seine Dignität - seine Glaubwürdigkeit und Reputation. Ein Verlust kommt dem existentiellen Bankrott gleich. Da wissenschaftliche Ergebnisse selektiv wahrgenommen und nur unter großen Kosten (an Geld und besonders an Zeit) reproduzierbar sind, ist die Dignität eines Wissenschaftlers besonders bei neuen, von gängigen Vorstellungen abweichenden Ergebnissen das Maß für sein Gewicht in der Fachdiskussion. Ein Wissenschaftler, der seine Dignität verloren hat, wird nur noch gering - am Rande, oder als "Kuriosum” - zur Kenntnis genommen. Er kann nur noch mit äußerster Vorsicht zitiert werden, wenn der Zitierende nicht fürchten will, auch seine eigene Dignität aufs Spiel zu setzen und mundtot gemacht zu werden. Damit wird ein drohender Verlust der Dignität indirekt zu einem Mittel der Disziplinierung, d.h. zu einer subtil wirkenden Bremse gegen zu viele neue und/oder zu radikale und "ketzerische” Ideen.

Nun gibt es aber eine Glaubwürdigkeit nicht nur im Kreise der Fachkollegen, sondern auch eine Glaubwürdigkeit gegenüber dem eigenen Gewissen. Beide können in Konflikt miteinander geraten. Wie oft dies geschieht, wissen wir nicht, da natürlich nur jene Fälle wahrnehmbar werden, in denen jemand den Konflikt zugunsten des eigenen Gewissens und der eigenen Forschungsredlichkeit löst und damit die Anerkennung der main-stream-Wissenschaft verliert. Zu den Beispiele aus jüngerer Zeit zählt Wilhelm Reich, ehemals Schüler von Sigmund Freud, Begründer körperorientierter Psychotherapien, der sich als Naturforscher Energien (sog. "Orgon-Energie”) zuwandte, die nicht ins gängige Paradigma passen, da sie u.a. den Übergang von Materie zu Leben in spezifischer Weise beschreiben. Übrigens wurden nicht nur seine Apparate in den 50er Jahren dieses Jahrhunderts(!) in den USA zerstört, sondern auch seine Bücher und Schriften öffentlich (als "Werbeschriften”) verbrannt - darunter auch solche, die überhaupt nichts mit der Orgonenergie zu tun hatten sondern selbst von seinen erbittertsten Gegnern als wichtige Beiträge und Standardwerke zur Psychoanalyse angesehen werden. Ein weiterer hier zu nennender Name ist Elisabeth Kübler-Ross, die zahlreiche Ehrendoktorate für ihre Forschungen im Zusammenhang mit Phasen und Erlebnissen des Sterbens, erhalten hat, deren Ergebnisse über Geistheilungen aber nicht mehr von der scientific community akzeptiert wurden. Ein drittes Beispiel ist John Lilly, der als führender Delphin-Forscher galt und gilt, dessen Forschungsergebnisse im Zusammenhang mit transpersonalen Erlebnissen durch Reizentzug (sog. "sensorische Deprivation” in speziellen Tanks) in der Zunft als inakzeptabel gelten.

Während manche andere Forscherinnen und Forscher nie zur Kenntnis genommen zu werden brauchten, weil sie sich von vornherein suspekten Bereichen zuwandten (denen also "Dignität” sowieso nie zugesprochen wurde) - wie z.B. Timothy Leary, Stanislav Grof, Helen Blavatsky, Rudolf Steiner, Georges I. Gurdjieff, Jack Schwarz - mußte die scientific community für die drei oben genannten Wissenschaftler Gründe (er-)finden, warum Menschen mit großer Dignität diese plötzlich verlieren. Es wurden vor allem psychologische Gründe ins Feld geführt - Reich sei "schizophren” geworden, Kübler-Ross den Belastungen der häufigen Sterbeerlebnisse und Lilly denen der Deprivations-Halluzinationen erlegen. Ganz so leicht kann man es sich aber nicht machen, diese Forscher in die für unsere Gesellschaft so typische Ausgrenzungs-Ecke "geistig Verwirrter” zu stellen. Denn immerhin waren sich die Genannten dessen bewußt, daß sie sich der Unglaubwürdigkeit und Lächerlichkeit seitens ihrer Fachkollegen aussetzten. Und es ist sicherlich leichter, um der Achtung und Bewunderung der Kollegen willen Abstriche an den eigenen Erkenntnissen vorzunehmen, als diese Achtung um der eigenen inneren Glaubwürdigkeit willen aufs Spiel zu setzen.

Hier ist nicht der Ort, in eine Fachdiskussion über die Angemessenheit oder Unangemessenheit der von diesen Forschern erfaßten Realität - d.h. über deren (Teil-)Bild von Natur - zu diskutieren. Nicht einmal die Bilder ihrer Beziehung zur Natur, um nochmals an das Heisenberg-Zitat zu erinnern, können hier erörtert werden, obwohl eigentlich zumindest die Psychologie selbst dann großes Interesse daran haben müßte, wenn es sich um "reine Hirngespinste” handeln würde. Denn schließlich wären Fragen wie: "Woher kommen solche Hirngespinste?”, "Welche Erfahrungen und Beziehungen zur Welt drücken sie aus?”, "Wieso beeindrucken und beeinflussen sie viele gebildete Menschen (wenn eben auch nicht die Mehrheiten und Machthaber in der scientific community)?” legitime Fragen an eine Wissenschaft, die sich mit Hirnprozessen und deren Ergebnissen - also auch deren "Gespinsten” - auseinandersetzen will.

Statt dessen erscheint es hier angebracht, auf ein gut dokumentiertes Beispiel eines Wissenschaftlers einzugehen, der im inneren Kampf um die Dignität das Schweigen (in einem für ihn wesentlichen Erkenntnisbereich) wählte: Gemeint ist Wolfgang Pauli (1900-1958), der 1945 für die Entdeckung des "Pauli Prinzips” den Physik-Nobelpreis erhielt, für Heisenberg zeitlebens "die Rolle des stets willkommenen, wenn auch sehr scharfen Kritikers und Freundes gespielt” hat, und wegen der Schärfe seines Denkens und seiner Kritik oft als "das Gewissen der Physik” bezeichnet wurde.

Gleichzeitig beschäftigte sich Pauli aber intensiv mit Fragen der Tiefenpsychologie, nahm seine Träume sehr ernst und stand auch bis zu seinem Tod über Jahrzehnte mit C.G. Jung in Briefwechsel. Aus diesen Briefen und den aufgezeichneten Träumen sowie Paulis Auseinandersetzung damit geht hervor, daß er jahrelang darum gekämpft hat, zu der "inneren Aufgabe” zu stehen, eine Naturbeschreibung zu entwickeln, in welcher Tiefenpsychologie (d.h. besonders Phänomene des individuellen und kollektiven Unbewußten) und moderne Physik verbunden werden. In vielen Träumen tauchte ein "Perser” oder ein "Fremder” auf, der Pauli einlud, einen Lehrstuhl an einer neuartigen, polytechnischen Universität anzunehmen. In der Tat befaßte sich Pauli intensiv mit Archetypen, d.h. mit allgemeinen Strukturierungsprinzipien, die psychischen und physikalischen Phänomenen gemeinsam zugrunde liegen (deren zeitnahe Manifestation in beiden Bereichen dann als "Synchronizität” erfahrbar wird). Er verfaßte auch sogar Arbeiten zur "Hintergrundsphysik”, wie er es nannte. Damit meinte er das Problem, wie die Struktur des physikalischen Begriffssystems zu erklären sei (bei dem es sich ja um kognitive Prozesse handelt), wobei es "um die Enthüllung der archetypischen Grundlage der in der heutigen Physik tatsächlich angewandten Begriffe” ging.

In Physiker-Kreisen allerdings war Pauli sehr zurückhaltend, über seine neue Konzeption einer umfassenden Naturbeschreibung zu sprechen. Das o.a. Manuskript über "Hintergrundsphysik” wurde erst nach seinem Tod veröffentlicht, andere Arbeiten liegen noch immer unter Verschluß und sind nicht allgemein zugänglich. Pauli fürchtete, seine Reputation aufs Spiel zu setzten - gleichzeitig schien "der Fremde” aber genau das von Pauli zu fordern: Ein öffentliches Bekenntnis zu seinen Erfahrungen und Erkenntnissen. Wie man Dokumenten entnehmen kann hat Pauli sehr unter diesem inneren Kampf gelitten.

Auch in dieser Hinsicht ist hier nicht der Rahmen, zur Bedeutung z.B. dieser Archetypen-Konzeption, als Geist und Materie gemeinsam zugrunde liegende Ordnungsprinzipien, inhaltlich etwas auszusagen. Wir dürfen aber fragen: Was ist das eigentlich für eine Wissenschaft und Wissenschaftler-”Gemeinschaft” (wie es so schön heißt), in der führende und kluge Mitglieder Angst haben müssen, ihre Erkenntnisse anderen mitzuteilen; eine Wissenschaft, in der sie sich aus der (leider begründeten) Furcht, Dignität, Achtung und Ansehen zu verlieren, zum Schweigen in Bereichen verdammt fühlen, die ihnen - wohlgemerkt: nicht nur als Menschen sondern auch in ihrer Arbeit als Wissenschaftler - wesentlich erscheinen.

Wenn auch die genannten Personen nicht statistisch repräsentativ für "die” Wissenschaft anzusehen sind, so treffen die eben aufgeworfenen Fragen die Wissenschaft wohl doch eher in ihrem Kern. Gerade an diesen Beispielen wird daher m.E. das zwanghafte, von Angst und Kontrolle durchsetzte Handeln in der Wissenschaftler-”Gemeinschaft” noch einmal besonders deutlich.


VIII. Ausblick

Wenn wir uns nun der Frage zuwenden, wie die Haltung der ganzheitlichen Psychotherapie ein Wegweiser für eine lebensgerechtere Wissenschaft sein könnte, so möchte ich vorschlagen, die o.a. therapeutische Leitfrage: "Wie mag es jemandem gehen, der das sagt, was er sagt?” für die wissenschaftliche Kommunikation etwas abzuwandeln, und zu fragen: "Was mag jemand wirklich meinen - welche Erfahrung will er transportieren, was beschäftigt ihn, welche Grundfragen leiten ihn - der das sagt, was er sagt?” Das würde bedeuten, bei der Aufnahme der Information weniger sofort nach Schwächen und Gegenargumenten zu suchen, sondern danach, was sich mit den eigenen Erfahrungen und Sichtweisen zu neuen Bildern kombinieren läßt. Dies ist also keineswegs ein Plädoyer für "unkritische” Wissenschaft, in der Unklarheiten sich beliebig vermehren, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte. Vielmehr werden Inhalte hinsichtlich ihres Beitrages zum gemeinsamen Verständnis von "Lebenswelt” (oder eines Ausschnittes daraus) hinterfragt und können geklärt bzw. modifiziert werden. Ideen müssen sich dann nicht primär gegen andere behaupten oder in destruktive Konkurrenz zu diesen treten, sondern können (in konstruktiver Konkurrenz) miteinander kombiniert zu komplexeren und tieferen Einsichten führen.

Ein konkreter Versuch, stärker in diese Richtung zu gehen, ist z.B. das internationale und multidisziplinäre Projekt "Vernetzung und Widerspruch”, welches den "Konstruktiven Realismus” des Wiener Wissenschaftstheoretikers Fritz Wallner faktisch umzusetzen versucht. Darin spielt die Methodologie der sog. "Verfremdung” eine zentrale Rolle, indem Begriffe, Satzsysteme und Vorgehensweisen in einen anderen Kontext (z.B. in den Kontext einer anderen Wissenschaftsdisziplin) gestellt werden. In einem Beispiel, das Wallner selbst schildert, hatte dies zur Konsequenz, daß Wissenschaftler aus dem Bereich der Geographie ein praxisbezogenes Forschungsprojekt für die Betroffenen aus der Perspektive ihrer jeweils individuellen Interessen und ihrer persönlichen Geschichte zu erläutern versuchten, "d.h. sie versuchten ein Verfahren zu entwickeln, das es dem einzelnen Wissenschaftler ermöglicht, die Methoden seines Faches zu verlassen und sich auf die ungeschützte Situation der Diskussion mit Nichtfachleuten einzulassen und trotzdem in verbindlicher Weise zu sprechen

Es geht bei der oben vorgeschlagenen Leitfrage für die wissenschaftliche Kommunikation somit nicht darum, daß Wissenschaftler auf Kongressen oder in der publizierten Diskussion "netter” miteinander umgehen. Vielmehr läßt die Reflexion des eigenen Standpunktes und die Achtung des anderen eine so komplexe Vielfalt an Perspektiven, Ideen, Theorien zu, daß sie der Komplexität des Lebens gerechter werden kann als die Überlebenskonkurrenz der "effektivsten Strategien”. In einem solchen komplexen Miteinander hätten auch die Aspekte der Einmaligkeit, der Beziehung und des ("ineffektiven”) Verständnisses ebenso ihren Raum, wie auch Forscher das für sie wesentliche zur Sprache bringen dürfen, ohne den Sanktionsmechanismen der Abwertung, Ausgrenzung und Diskreditierung ausgesetzt zu werden.

Verbunden mit Bubers Deutung des "Adam, wo bist Du?” könnte dies in die weitergehenden Leitfrage münden: "Wo stehen wir als Menschen, die wir Wissenschaft treiben, in dieser Welt?” So wie Psychotherapeuten es als ihre Aufgabe verstehen, Lebensprozesse der ihnen anvertrauten Menschen zur Sprache zu bringen, könnten sich Wissenschaftler mit dieser Leitfrage vor die Aufgabe gestellt sehen, sich so sehr als Teil der Natur und ihrer Evolution zu begreifen, daß sie, je nach Disziplin versuchen, die Mitwelt zur Sprache zu bringen. Der Mensch, dem die Evolution Sprache verliehen hat, würdigt diese Gabe, indem er sich bemüht, auch die anderen Bereiche der Schöpfung zur Sprache zu bringen. Welche Aufgabe könnte für einen Wissenschaftler würdiger und angemessener sein?

Ähnliche Überlegungen gelten auch für das im vorangegangenen Exkurs angeschnittene Problem der Dignität, denn neben der Dignität im Kreise der Fachkollegen und der Dignität gegenüber dem eigenen Gewissen gibt es natürlich noch die Dignität des Forschungsgegenstandes ("Dignität” hierbei weniger in der Konnotation der Glaubwürdigkeit als vielmehr der umfassenderen Bedeutung von Würde verstanden).

Wegweiser machen Angaben über den Standort und über die Richtung - hingegen sagen sie üblicherweise nichts über das schwierige Problem, wie dieser Weg gegangen werden kann. Auch wenn ganzheitlich therapeutisches Wissen in diesem Beitrag zum Standort abendländischer Wissenschaft und zur Richtung einer lebensgerechteren Wissenschaft vielleicht Nützliches beitragen könnte, so bleibt die Frage offen, wie Fortschritte auf diesem Weg erzielt werden könnten.

Wenn wir den Aspekt der Selbstentfaltung in der ganzheitlichen Psychotherapie ernst nehmen und die o.a. Bedeutung der Sozialisation (auch in dem spezifischen Bereich der "scientific community”), so käme es darauf an, günstige Umgebungsbedigungen für Entwicklungen zu schaffen: Förderlich wäre, wenn insbesondere diejenigen Wissenschaftler, die durch glückliche Umstände ihr Erleben von Sicherheit nicht allein an Kontrollbedingungen zu knüpfen brauchen, sich selbst als wesentliche Momente in der Sozialisation anderer begreifen würden. Hilfreich erscheint mir auch, sich gegenseitig bei der schmalen Gratwanderung im Gleichgewicht zwischen innerer und äußerer Dignität zu ermuntern, sich mutig im Erkennen zu erkennen zu geben, immer wieder die Begegnung zu suchen und auf der Frage zu insistieren: "wie gehen wir eigentlich miteinander und mit der Mitwelt um, indem wir Wissenschaft treiben?” So ließe sich faktisch zu belegen, daß Schritte auf dem Weg zu einer lebensgerechteren Wissenschaft möglich sind. Dies ist nicht viel. Aber auch der weiteste Weg beginnt stets mit einzelnen Schritten.