Publiziert in einem Sonderderband der Ev. Akademie Mülheim/Ruhr 1998

Archetypische Ordnungen

Die Begegnung von Physik und Psychotherapie

Jürgen Kriz

(Nachschrift eines Vortrags im Rahmen der Tagung "Vom Sinn im Zufall. Anregungen von Wolfgang Pauli aus seinem Dialog mit C.G.Jung”; 8.-10.Mai 1998, Evangelische Akademie Mülheim/Ruhr in Zusammenarbeit mit dem Kepler Kreis).

Einleitung: Die Problemstellung

Mein großes Interesse an dem Pauli-Jung-Dialog und an der Thematik meines Vortrages erklärt sich aus meinen Arbeitsschwerpunkten: Als Wissenschaftler und Psychotherapeut beschäftigt mich insbesondere die Struktur und Strukturveränderung von menschlichen Erlebens- und Lebenswelten. Es geht dabei um das Verständnis, wie wir uns selbst, unsere Mitmenschen und die (anderen Teilbereiche der) Welt erfahren und bewerten und wie wir uns in dieser Welt (einschließlich uns selbst gegenüber) verhalten. All diese Fragen berühren einerseits Aspekte eines einmaligen Prozesses: Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen, betonte schon vor 2 ½ tausend Jahren Heraklit von Ephesos. Man selbst und der Fluß verändern sich ständig, so wie auch der Fluß des Lebens eine Abfolge von Einmaligkeiten darstellt. Andererseits nehmen wir sogar beim Betrachten der brausenden, schnell vorbeiströmenden, immer neuen Wassermassen eines Flusses "Strudel”, "Muster” und andere "Regelmäßigkeiten” wahr. Anderes in unserer Welt vermittelt uns sogar noch viel mehr den Eindruck von Ordnung - etwa die "Abfolge” der Jahreszeiten oder der "Lauf der Sonne” und die "Planetenbahnen”, die trotz stets einmaliger Raum-Zeit-Konstellationen lange Zeit der Inbegriff von Ordnung, Gesetzmäßigkeit und Stabilität waren (und in unserer Alltagswelt - unberührt von Poincarès bahnbrechender Arbeit vor über hundert Jahren und moderner Chaosforschung - immer noch sind). Auch unsere unmittelbar erfahrbare Lebenswelt hat ihre Ordnungen (oft gar zu viele und zu reduzierte, wie die vielen Zwangsstörungen belegen) indem im Fluß von Einmaligkeiten scheinbar Wiederkehrendes, Regelmäßiges, eben Struktur, erfahren wird. Mit "Struktur” meine ich dabei die Regelmäßigkeiten eines dynamischen Prozesses - im Gegensatz zur statischen Ordnung z.B. eines Mosaiks oder einer gezeichneten geometrischen Figur. Allerdings ist die Vorstellung einer statischen Ordnung eine von unserer Erfahrung (=dynamischer Prozeß) bereits losgelöste Abstraktion - jedenfalls setzt die Wahrnehmung auch von "statischer Ordnung” in unserer Erfahrungswelt voraus, daß sich auch der dynamische Prozeß der Wahrnehmung einfach strukturiert. Dies wird z.B. durch den Unterschied zwischen der statischen Ordnung eines gezeichneten (also zweidimensionalen) "Würfels” (sog. "Necker-Würfel”) und der oszillierenden Wahrnehmung einer dreidimensionalen Figur (deren Raumkoordinaten in der Tiefe zwischen "hinten” und "vorne” oszillieren) deutlich. (obwohl dies hier nur als "Problem-Tür” angedeutet werden kann, hinter der sich ein unerhört spannender Forschungsbereich über die Struktur der "Welt” eröffnet). Ich habe mich dieser Thematik von unvorhersehbarer Einmaligkeit (Chaos) und der ordnenden Strukturierung des Lebens - besonders menschlicher Lebenswelten - in den letzten Jahren zunehmend gewidmet (Kriz 1992, 1997a,b).

Etwas stärker aus der wissenschaftlichen Außenperspektive formuliert, geht es (ohne dies hier näher ausführen zu können) um die Struktur und Strukturveränderung von selbstorganisierten Prozessen. Diese finden wir im psychologisch-therapeutischen Bereich einerseits in humanistischen Ansätzen, wie der klientzentrierten Psychotherapie von Carl Rogers mit dem Konzept der Aktualisierungs- und Selbstaktualisierungstendenz, thematisiert. Andererseits wird seit rund drei Jahrzehnten im Rahmen der System- und Familientherapie besondere Aufmerksamkeit auf die Struktur und Strukturveränderung von Interaktionsprozessen gelegt. Verhaltensweisen, Symptome und Befindlichkeiten werden hierbei auf ihre funktionelle Bedeutung in diesen Interaktionsprozessen analysiert. So ist z.B. das "Weinen” eines Menschen nicht nur Ausdruck seiner - isoliert zu sehenden - inneren Befindlichkeit, sondern diese Befindlichkeit steht in einem kommunikativen Prozeß, der dem "Weinen” gleichzeitig die Funktion Appells an eines oder mehrere Familienmitglieder verleihen kann. Als reflexive Wesen, die wir sind, haben Teile unseres Ausdrucks sogar Appellfunktion an uns selbst. Die Struktur der sozialen Interaktionen hängt somit eng mit den Prozessen des Erlebens und Verhaltens zusammen.

Geht man nun der Frage nach der Beschreibung und Erklärung solcher Strukturen und Strukturveränderungen nach, so wird bald deutlich, daß wir Prozesse auf sehr unterschiedlichen Ebenen berücksichtigen müssen.

Im Zentrum der Betrachtung stehen dabei, für meine Wissenschaft, sicher psychische Prozesse - also besonders Wahrnehmungen, Empfindungen Gedanken und Gefühle (wobei wir die Unterscheidung "bewußt”/”unbewußt” noch zusätzlich berücksichtigen müssen) - sowie kommunikative Prozesse wie verbaler und nonverbaler Ausdruck, Verhalten und intendierte Handlungen. Doch stehen diese natürlich in engen Beziehungen zu Ebenen wie den biosomatischen Prozessen, die insbesondere als neuronale und humorale Prozesse die körperliche Grundlagen von Denken und Fühlen darstellen, sowie zu Ebenen wie gesamtgesellschaftlichen Prozessen, die z.B. als Kultur den Regelrahmen für Sprache, eheliche Beziehungen oder Arbeitsverhältnisse vorgeben.

Für die theoretische Fundierung und nähere Erforschung dieser überaus komplexen Prozesse und ihren wechselseitigen Beziehungen auf sehr unterschiedlichen Prozeßebenen bieten sich m.E. jene modernen Systemtheorien an, die das selbstorganisierte Entstehen von Strukturen (oder "Regeln”) und deren Veränderungen auf bestimmten Systemebenen in Beziehung zu anderen Systemebenen beschreiben (also Stabilitäten, Instabilitäten und Phasenübergänge). Aus wohlüberlegten Gründen bevorzuge ich hier den Ansatz von Hermann Haken, der als "Synergetik” bekannt ist und zwar ursprünglich im Rahmen der Laserphysik entwickelt wurde inzwischen aber in weit über tausend Arbeiten seine interdisziplinäre Fruchtbarkeit unter Beweis gestellt hat. Ich kann und will in diesem Beitrag nicht auf die Detailunterschiede von Systemkonzeptionen eingehen. Wesentlich für den weiteren Gang meiner Argumentation sind aber folgende Aspekte:

a) für das Verständnis von Strukturbildung und -wandlung auf einer bestimmten Systemebene - z.B. auf der Ebene von psychischen Prozessen - sind die anderen Systemebenen jeweils als "Umgebungsbedingungen” dieses Prozesses zu verstehen (in der Sprache der Synergetik: die Unterscheidung zwischen Ordnungsparametern und Kontrollparametern),

b) Strukturbildung und Strukturveränderung (Emergenz und Phasenübergang) setzen jeweils eine Phase von Instabilität voraus, in der schwächste ordnende Kräfte (Zufallseinflüsse oder intentional gesetzte) eine enorme Wirksamkeit entfalten. Ein nicht-physikalisches Beispiel: In der Instabilität nach dem Schlußton in einem Konzert und dem einsetzenden Applaus reichen meist Spontanfluktuationen (Zufall) oder der gezielte Rhythmus Einzelner (Intention) aus, daß der ganze Saal diesen Rhythmus übernimmt;

c) Strukturbildung ist als eine radikale Reduktion von Freiheitsgraden zu verstehen (im Beispiel eben: die Vielzahl unterschiedlicher individueller Klatsch-Rhythmen wird nun zu einem Rhythmus);

d) ist ein (ggf. sehr kleiner) Teil eines Systems geordnet, wird in der weiteren Dynamik auch der Rest von diesen Ordnungsparametern "versklavt” (d.h. wird in diese, durch Ordnungsparameter bestimmte attrahierende Dynamik gezogen). Daraus folgt ein von Haken für die Synergetik formulierter wesentlicher Zusammenhang: Strukturbildung und Strukturerkennung sind zwei Seiten desselben: Durch Fluktuationen "probiert” ein System immer wieder aus, ob sich die Umgebungsbedingungen für die Etablierung einer neuen Struktur geändert haben - es "erkennt” somit quasi vorhandene Teilstrukuren um diese dann zu komplettieren. Im Klatsch-Beispiel "erkennen” die individuellen Klatscher (meist unbewußt) den Rhythmus und je mehr Klatscher sich (ebenfalls meist unbewußt) diesem anschließen, desto deutlicher wird dieser, desto stärker wird aber auch die Kraft, sich dem anzuschließen.

Diese Aspekte lassen sich, wie gesagt, auch als wesentliche Beschreibungsmerkmale für psychische und interaktive Prozesse heranziehen (so war das Klatsch-Beispiel ja nicht-physikalisch). Schon auf elementarster Ebene der Wahrnehmung haben wir ununterbrochen das Ergebnis von Komplettierungsdynamiken buchstäblich vor Augen: Den "blinden Fleck” - dort wo der Sehnerv durch unsere Netzhaut tritt, wir also keine Reize aufnehmen können - sehen wir üblicherweise nicht: in unserem Wahrnehmungsfeld befinden sich nicht zwei "schwarzer Löcher”, sondern das entsprechende Areal wird im Wahrnehmungsakt einfach aufgrund der wahrscheinlichsten Textur aus der Umgebung komplettiert. Auch wenn wir einen Menschen nur kurz und zum ersten Mal sehen, haben wir ein recht komplettes "Bild” "vor Augen”. Dieses wird nicht nur visuell komplettiert (ein Arm war vom Mantel bedeckt - "selbstverständlich” aber haben wir das "Bild” eines zweiarmigen Menschen, bis wir durch erneutes Hinsehen ggf. bemerken, daß dieser Mensch tatsächlich einen Arm verloren hatte). Vielmehr wird unser "Bild” von diesem Menschen, auch hinsichtlich Eigenschaften, Verhaltensweisen etc., zu denen gar keine objektive Information vorliegt, von uns mehr oder minder "komplettiert”. Die Dynamik dieser Komplettierung erfolgt nach Strukturierungsprinzipien, die wir ... - ja woher stammen diese eigentlich?

Mit dieser Frage am Schluß meiner eher einleitenden Bemerkungen sind wir mitten im Kern des Pauli-Jung-Dialogs. So werden wir beim Beispiel des "blinden Flecks” die Quelle der Strukturierungsprinzipien wohl eher in angeborenen - also im Laufe der Evolution erworbenen - Prinzipien vermuten. Bei der "Erkennung” bzw. erfinderischen "Bildung” von Persönlichkeitseigenschaften einer nur sehr kurz gesehenen Person würden wir hingegen geneigt sein anzunehmen, daß diese Strukturierungsprinzipien eher erst auf im Laufe unseres Lebens erworben wurden. Wobei wir, selbst wenn wir keine Fans pychoanalytischen Gedankenguts sind, unterschiedliche sensible Phasen im Lebenslauf für wahrscheinlich halten werden - Phasen, die für die Herausbildung grundsätzlicher Strukturierungsprinzipien, mit denen wir unsere Lebenswelt ordnen, besonders relevant sind. So wie für den Erwerb der Grammatik der Muttersprache eben nicht jedes Lebensalter gleich gut geeignet ist.

Pauli interessierte sich nun nicht so sehr für die Strukturierungsprinzipien des visuellen Feldes, der Persönlichkeitswahrnehmung (oder besser: -attribuierung) und auch nicht der Sprache - obwohl letzterer Fragebereich schon Berührungspunkte mit seinem Anliegen aufweist. Vielmehr interessierten ihn die Strukturierungsprinzipien der Weltsicht, besonders der physikalischen Weltsicht, und noch spezifischer: der (formal-mathematischen) Theorien (also gewissermaßen doch auch ein Spezialaspekt einer speziellen Sprache).

Daß dies überhaupt ein beschäftigungswertes Problem sein kann, mag manchen physikalisch und erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretischen Laien erstaunen. Denn in unserer, immer noch durch naiv-realistische Vorstellungen über "Wissenschaft” bestimmten Kultur gehen viele Menschen davon aus, daß (1.) die Physik als eine empirische Wissenschaft möglichst genau und wahrheitsgetreu "die Wirklichkeit” erfaßt, (2.) die Struktur der Theorien somit weitgehend aus den empirischen Tatsachen logisch folgen und (3.) die dabei verwendeten mathematischen Formalismen, einschließlich der dabei auftauchenden Zahlen, einerseits eine reine Konstruktion des menschlichen Geistes sind, die andererseits eben - unter Beachtung möglichst einfacher Darstellungsform - schlicht dieser Struktur folgen.

Alle drei "selbstverständlichen” Annahmen sind aber aus heutiger Sicht nicht haltbar, wofür in diesem Zusammenhang nur drei Zitate als "Beleg” angeführt seien:

ad 1: "Wenn von einem Naturbild der exakten Naturwissenschaften in unserer Zeit gesprochen werden kann, so handelt es sich eigentlich nicht mehr um ein Bild der Natur, sondern um ein Bild unserer Beziehung zur Natur.” (Heisenberg 1955)

ad 2: "Ich hoffe, daß niemand mehr der Meinung ist, daß Theorien durch zwingende logische Schlüsse aus Protokollbüchern abgeleitet werden, eine Ansicht, die in meinen Studententagen noch sehr Mode war. Theorien kommen zustande durch ein von empirischem Material inspiriertes Verstehen, welches am besten im Anschluß an Plato als zur Deckung kommen von inneren Bildern mit äußeren Objekten und ihrem Verhalten zu deuten ist.” (Pauli 1957)

ad 3: "... man muß unterscheiden zwischen den mathematischen Begriffen und den Erlebnissen der Mathematiker (welch letztere sicher in ihrer Psyche stattfinden). Andererseits scheint es mir wichtig, dass der archetypische Hintergrund des Zahlbegriffes nicht vergessen wird. (Unter den Mathematikern selber war eine Zeit lang eine merkwürdige Tendenz vorhanden, die mathematischen Aussagen zu bloßen Tautologien zu degradieren. Dieser Versuch scheint aber nun gescheitert, da es nicht möglich war, auf diese Weise die Widerspruchsfreiheit der Mathematik einzusehen). Es ist dieser Zahl-Archetypus, welcher die Anwendung der Mathematik in der Physik letzten Endes ermöglicht. Andererseits hat der gleiche Archetypus eine Beziehung zur Psyche” (Pauli 1953)

Diese Fragestellung Paulis wurde unterstützt durch seine Erfahrungen eines sehr intensiven Traumerlebens, das von physikalischen Vorstellungen durchdrungen war, und der Tatsache, daß er auf viele Quellen gestoßen war, in denen wissenschaftliche Laien oder aber Forscher des Mittelalters (besonders des 17. Jahrhunderts, an der Schwelle zur modernen Wissenschaft) Vorstellungen entwickelten, die strukturell der modernen Physik entsprachen, obwohl sie von dieser im engeren Sinn, bewußt rational, keine Kenntnis haben konnten. Gleichwohl strukturierte offenbar etwas eher Unbewußtes ihre Kenntnisse im weiteren Sinne, die denen der modernen Physik entsprechen.

Pauli war redlich genug anzuerkennen, daß er mit der Frage nach der Strukturierung menschlicher Welterfahrung und deren Ausdruck in Form von Theorien - einschließlich der Verwendung von Symbolen und Zahlen - den Kompetenzbereich der Physik verließ. Er intensivierte daher die Kooperation mit einem Psychologen und Therapeuten, den gleiche grundsätzliche Fragen beschäftigen: C.G. Jung.

Begegnung von Physik und Psychologie

Die gemeinsame Arbeit zwischen Jung und Pauli begann 1946, als Pauli nach 6-jährigem USA-Aufenthalt und Verleihung des Physik-Nobelpreises an die ETH-Zürich zurückkehrt. Bis zu Paulis Tod, 1958 fand ein sehr intensive brieflicher Austausch statt, der um einige persönliche Treffen bereichert wurde. Der schriftliche und in Briefform erfolgte Teil des Dialoges ist in dem kürzlich publizierten Band enthalten, der uns hier zusammengeführt hat. Daneben gab es noch die gemeinsame Publikation zweier (getrennter) Beiträge unter dem Titel "Naturerklärung und Psyche” (1952).

Daß sich Pauli gerade an Jung wandte, lag keineswegs daran, daß dieser "zufällig” auch in Zürich wohnte und es schon ein Jahrzehnt vor der intensiven Kooperation wenige Kontakte wegen der Vermittlung einer Psychotherapie gegeben hatte (was allerdings wohl Paulis Offenheit für solche Fragen unterstützte). Vielmehr lag es an dem gemeinsamen Interesse an eben diesen grundlegenden Strukturierungsprinzipien psychischer und materieller "Natur” (bzw. besser: des "unus mundus”, der einen Welt, von der psychische und physikalische Aspekte ohnedies nur unterschiedliche Aspekte sind). Daß Physik und Psychologie zusammentrafen war für beide auch nicht so ungewöhnlich: bereits der von Pauli geschätzte Albert Einstein war während seiner Professur in Zürich 1909-1910 und 1912-1913 öfter Gast im Hause von Jung - zu einer Zeit also, wo Einstein gerade seine allgemeine Relativitätstheorie entwickelte.

Gleichwohl ist diese Begegnung in sofern für die Psychologiegeschichte makaber, daß zwei der führenden Vertreter moderner Physik einen dezidiert an der "Psyche” interessierten Psychologen als Gesprächspartner wählten - zu einer Zeit, wo immer einflußreicher werdende Strömungen der Psychologie, etwa der Behaviorismus, lauthals danach strebten, endlich dadurch eine "richtige Naturwissenschaft” zu werden, indem sie sich auf möglichst "reine” Verhaltenstheorien beschränkte und konsequent Bewußtseinsphänomene eliminierte. Doch war diesen Apologeten einer "naturwissenschaftlichen Psychologie”, offenbar entgangen, daß die Königin der Naturwissenschaft, die Physik, Bewußtseinsaspekte und Beobachter-Entscheidungen gerade wieder stärker in ihre Theorien einführte. Jungs Ansatz eignete sich - als eine sehr weitreichende Psychologie des menschlichen Bewußtseins - daher viel besser als Basis einer fachlichen Kooperation für die moderne Physik des 20. Jahrhunderts, als viele andere Richtungen der Psychologie.

Daß große Teile auch der gegenwärtigen akademischen Psychologie von der Jungschen Psychologie ebenso (bestenfalls) rudimentäre Vorstellungen hat wie von der Physik Einsteins und Paulis, ja, daß sie Jung für ebenso "unwissenschaftlich” erklärt wie manche Phänomene der modernen naturwissenschaftlichen Systemtheorie, für die es in den letzten Jahren Nobelpreise gab (z.B. Konzepte der Selbstorganisation), lasse ich lieber unausgeführt. Dies ist kein Ruhmesblatt meiner Disziplin, der ich primär angehöre, und deren Ignoranz gegenüber modernem naturwissenschaftlichen Denken ebenso wie die Abstinenz von den entsprechenden interdisziplinären Dialogen in bitterem und mich schmerzenden Kontrast zum verkrampften Bemühen und endlosen Beteuern steht, sich als "Naturwissenschaft” auszugeben.

Ein wesentlicher Kern, der im Verlauf des Pauli-Jung-Dialog zunehmend an Bedeutung gewann, war die gemeinsame Ausarbeitung des Achetypen-Konzepts, von dem sich beide ein Psychologie und Physik umfassendes Naturverständnis erhofften. Denn auch wenn die Strukturierungsprinzipien physikalischer Theorienbildung stark vom Bewußtsein abhängen, ist die Physik natürlich nicht auf Psychologie reduzierbar - umgekehrt allerdings schon gar nicht. Bei aller Unterschiedlichkeit ihrer jeweiligen Fachdisziplin und der darin üblichen Art zu forschen, ging es Pauli und Jung somit darum, gerade diese verschiedenen Standpunkte zu nutzen, um im Blick auf das Gemeinsame eine angemessenere Gesamtsicht zu entwickeln. Pauli schrieb daher in einem bis vor kurzem unveröffentlicht gebliebenen Aufsatz vom Juni 1948:

"In der folgenden Skizze versuche ich, zu erläutern, wie ein Physiker als Folge dieses Rückgriffes von diesem Hintergrunde aus notwendig in die Psychologie gerät. Da ich Physik und Psychologie als komplementäre Untersuchungsrichtungen betrachte, bin ich sicher, dass ein völlig gleichberechtigter Weg existiert, der den Psychologen "von hinten” (nützlich über die Untersuchung der Archetypen) in die Physik führen muss.”

Eine Naturerklärung, die Psychologie und Physik einbezieht bzw. umfaßt, kann natürlich nicht Begrifflichkeiten verwenden, die nur in einer der beiden Wissenschaften Bedeutung haben. Vielmehr müssen Konzepte gesucht werden, die quasi "neutral” sind. So wird in Paulis Brief an Jung vom 31.3.53 das Ringen um eine solche "neutrale” Konzeption deutlich:

"Mit meiner Forderung nach 'neutralen' allgemeinen Begriffen befinde ich mich auch im Einklang mit Ihrem von mir so fundamental empfundenen Artikel 'Der Geist in der Psychologie', wo Sie sagen: Die Archetypen haben ... eine Natur, die man nicht mit Sicherheit als psychisch bezeichnen kann. - Obwohl ich durch rein psychologische Überlegungen dazu gelangt bin, an der nur psychischen Natur der Archetypen zu zweifeln, etc.'. Es scheint mir, dass Sie diese Zweifel unbedingt ernst nehmen und nicht doch wieder das Psychische zu weit ausdehnen sollten. Wenn Sie sagen, dass 'die Psyche z.T. stofflicher Natur' ist, so hat das für mich als einem Physiker die Form einer metaphysischen Aussage. Ich ziehe es vor zu sagen, dass Psyche und Stoff durch gemeinsame, neutrale 'an sich nicht feststellbare' Ordnungsprinzipien beherrscht werden. (Anders als dem Psychologen fällt es dem Physiker sehr leicht, statt 'das Unbewusste' z.B. zu sagen 'das U-Feld', womit die 'Neutralität des Begriffes' schon hergestellt wäre)”.

Ein solcher zentraler Begriff ist "Archetyp”, der in den Zitaten ja schon mehrfach aufgetaucht ist:

Das Konzept der Archetypen

Jung kam nach eigenen Aussagen zum Konzept der Archetypen über ein Erlebnis mit einem als "paranoid schizophren” diagnostizierten Patienten, das er ca. 1906 hatte. Der Patient blinzelte in die Sonne, drehte seinen Kopf hin und her und forderte Jung auf dasselbe zu tun: er würde dann etwas sehr Interessantes sehen. Als Jung ihn fragte, was er denn sähe, schien er überrascht, daß Jung es nicht selbst sehen konnte, und sagte: "Sehen Sie doch den Sonnenpenis - wenn ich meinen Kopf hin- und herbewege, so bewegt er sich ebenfalls, und das ist der Ursprung des Windes.” Jung hielt dies - wie wohl auch wir und alle Psychiater heute es tun würden - für eine abstruse Halluzination dieses Kranken. Er zeichnete sie aber auf.

Vier Jahre später las Jung in einem gerade veröffentlichten Buch über einen griechischen Papyrus, in dem vom Mithras-Kult berichtet wird. Darin wird von einer Röhre berichtet, die vom Antlitz der Sonne herabgelassen wird und die den Ursprung des Windes darstellt. Das Bemerkenswerte ist nicht nur die Übereinstimmung zwischen der Halluzination des Kranken mit der über 2000 Jahre alten Schrift, sondern auch die Tatsache, daß der Papyrus zum Zeitpunkt der Halluzination noch gar nicht veröffentlicht war. Der Kranke, der ohnehin nur Volksschulen besucht hatte und nie gereist war, konnte also nicht auf dem Wege "einfachen Lesens” zu seiner Bild gekommen sein.

Dieses Erlebnis führte Jung zunächst dazu, neben dem persönlichen Unbewußten auch die Konzeption des kollektiven Unbewußten einzuführen. Dieses kollektive, den Menschen gemeinsame, Unbewußte meint jene Inhalte, die nicht als persönlich erworben bezeichnet werden können - wie im Beispiel eben das "halluzinierte” Bild vom "Sonnenpenis.” Solche Inhalte zeichnen sich, nach Jung, durch ihren mythologischen Charakter aus; sie sind unabhängig von einer bestimmten Kultur, Rasse oder gar persönlicher Lebensgeschichte der gesamten Menschheit gemeinsam. Solche kollektiven Urbilder bzw. Grundmuster nannte Jung in Anlehnung an Platon, Augustinus und Kepler "Archetypen”.

Die Verwendung dieses Begriffs taucht bei Jung allerdings erst etwa ab 1919 auf. Zuvor sprach er noch von "Urbildern” und "Dominanten”, die er im Sinne angeborener Instinkte verstand. Dabei dürfen aber die Begriffe "Bilder” und "angeboren” uns nicht zu den üblichen statischen Vorstellungen von Bildern verleiten, sondern es geht eher um anordnende Operatoren bzw. um dynamische Organisatoren von solchen Bildern. Gerade diese Vorstellung von anordnenden Operatoren wurde durch den Pauli-Jung-Dialog vertieft und präzisiert und spielt darüber hinaus in den modernen System- und Selbstorgaisationskonzepten der letzten Jahrzehnte eine zunehmende Rolle - worauf ich später noch eingehen werde.

Lassen Sie mich aber zunächst noch wenige Bemerkungen zum Verständnis der Archetypen machen, da diese in "populären” Texten tatsächlich oft als (eher statische) Bilder verstanden werden, z.B. der Held, der Drache, der Vater, die Mutter, der Zauberer, der Weise, die Schlange etc. Dies liegt wohl daran, daß auch in seriösen und fundierten Darstellungen Archetypen als Bilder veranschaulicht werden (übrigens ja auch auf den bekannten Tarot-Karten) oder uns diese Archetypen in Träumen - oder noch näher: "Traumbildern” - begegnen. Dies liegt daran, daß wir in unserer Sprachkultur sehr viel einfacher von Gegenständen, Relationen etc. reden (und damit auch in hohem Maße: denken) können als von Prozessen und Kräften. Selbst beim "Blitzen”, "Regnen” etc. müssen wir grammatikalisch korrekt ein "es” hinzukonstruieren ("es blitzt” etc.), und wir stellen "den” Blitz, "den” Regen dar. Wie sollte man dynamische Organisatoren von Vorstellungs- und Traum-Bildern auch bildlich oder nur sprachlich kurz und präzise (ohne Mathematik) darstellen?

Das Problem läßt sich an einem vergleichsweise einfachen Beispiel der elementaren Schulphysik verdeutlichen, wo man nämlich die Struktur des Magnetfeldes eines Stabmagneten dadurch sichtbar macht, daß man auf ein darüber liegendes Blatt von oben Eisenstaub streut. Es ergibt sich dann auf dem Papier das wohl allen bekannte Bild von (Feld-) "Linien” (aus Eisenstaubteilen), die in elipsenähnlicher Form zwischen Nord- und Südpol des Magneten(-bildes) verlaufen. Natürlich "sind” dies nicht die Feldlinien. Es handelt sich nichteinmal um ein Bild der Struktur des Feldes in dem Sinne, wie ein Foto ein Bild der äußere Erscheinung meiner Frau zeigt. Vielmehr zeigt das Bild ein Ergebnis der Auswirkungen des Feldes auf eine spezifische Dynamik (dem Fallen-lassen von Eisenstaub auf das Papier über dem Magneten).

Ähnlich sind die Organisatoren der Psyche - d.h. des Bewußtseins und des Unbewußten - zu verstehen. Daraus wird aber auch deutlich, daß unser Bewußtsein nicht so sehr der Steuermann unseres Lebens ist, wie man unhinterfragt gemeinhin annimmt. Vielmehr ist das, was wir uns so gern als unseren ureigenen Teil zuschreiben, das, worauf wir zielgerichtetes Handeln und z.B. Aspekte wie Verantwortung begründen, vergleichbar mit einem Schifflein, das auf einem ungeheuren Strom des Unbewußten dahintreibt. Dessen Strömungen, Richtungen und Strudel erfahren wir oft nur an den Auswirkungen auf das Bewußtseinsschiff - ohne diese aber je perfekt vorhersagen und kontrollieren oder auch nur die Untiefen ausloten zu können. Wer kann schon wissen, ob ihn diese Unterströmung nicht am morgigen Tag ein Stück aus der Normalität des Alltags verrückt? Denn trotz unserer unhinterfragten Alltagssicherheit, Herr im eigenen Haus der Gedanken zu sein, kennt auch jeder "Normale” von uns die Momente unter Stress, unter belastenden Lebensumständen, wo unsere Gedanken ihre eigenen Wege gehen. Wo unser Bewußtseinsschiff - wenn ich dieses Bild nochmals wähle - von den reißenden Fluten einfach mitgeführt wird, wo die Wellen sich überschlagen, und der sonst scheinbar so sichere Strahl des Bewußtseins wie Irrlicht auf dem dahinbrausenden Strom tanzt. Ich bin sicher, jeder kennt Momente, wo die Gedanken quasi ein Eigenleben entfalten.

Auch wenn wir inzwischen umfangreiche Kenntnisse über die eher günstigen und die eher ungünstigen Bedingungen für die "Normalität” unseres Bewußtseins haben: Eine Garantie gibt es nicht. Wir können nie wirklich sicher sein, daß nicht - wie ich es an anderer Stelle formuliert habe - das Chaos von den Rändern unserer Lebenswelt in diese hereinbricht. Wenn wir aber - genaugenommen - so viel weniger Herr im Hause unserer Gedanken sind, als wir im Alltag vermuten, so drängt sich die Frage auf: was ordnet eigentlich die Gedanken? - und damit: woher kommt eigentlich die Ordnung dieser Welt, so, wie sie sich in unserem Bewußtsein ergibt? Und bei der Beantwortung der Frage würden wir mit Jung (und Pauli) eben nicht nur auf persönlich erworbene Strukturierungsprinzipien verweisen, sondern auch auf allgemeine, der Menschheit unabhängig von der jeweils ontegenetischen Erfahrung (aber jeweils relativ zu ihr ausgedrückt) gemeinsame Prinzipien, eben den Archetypen.

In diesem Zusammenhang spielen auch die Archetypen der natürlichen Zahlen eine wichtige Rolle: Denn in der Tat läßt sich (mit Pauli) fragen, warum eigentlich Naturgesetze oft in recht einfachen Relationen ausgedrückt werden können und dabei auch natürliche Zahlen eine zentrale Rolle spielen, obwohl die natürlichen Zahlen als eine Basis der Mathematik längst vor der Entdeckung dieser Naturgesetze den menschlichen Geist beflügelten. Die Betrachtungsweise der natürlichen Zahlen - besonders die ersten fünf - als "Zahl-Archetypen" geht auf gemeinsame Überlegung von Pauli, Jung und dessen langjährige und enge Mitarbeiterin Marie-Luise von Franz zurück. Die Zahl-Archetypen sind als universelle Aspekte der Formierung von Symbolen zu verstehen (vergleichbar vielleicht mit den linguistischen Universalien nach Chomsky).

Es erscheint mir an dieser Stelle zumindest erwähnenswert, daß auch Primzahlen in der Psyche des Menschen (oder zumindest mancher Menschen) eine besondere Rolle spielen. So ist von manchen Autisten - also Menschen mit besonders schwerem Zugang zu ihrer sozialen Welt (und meist weiteren Symptomen, die sie oft aus der Alltagsnormalität erheblich "verrückt”) - bekannt, daß sie einen besonderen Zugang zu Primzahlen haben. Der bekannte Psychiater Oliver Sacks gibt z.B. die Falldarstellung zweier autistischer und debiler Zwillinge, die von Kindheit an ihr Leben in Anstalten verbrachten, sich nicht selbst versorgen konnten und selbst einfachste Rechnungen - Additionen oder Multiplikationen im Einer-Bereich - nicht durchführen konnten. Dennoch "unterhielten” sie sich zu ihrer gegenseitigen Freude in 8- und mehrstelligen Primzahlen (zu deren Identifizierung selbst Computer einen erheblichen Zeit- und Rechenaufwand benötigen). Natürlich hatte die beiden nicht die geringste Vorstellung im Sinne der "Schulmathematik” von einer Primzahl. Auch bei weiteren erstaunlichen Leistungen, die mit Primzahlen zusammenhingen, gaben sie als "Erklärung” ab, daß sie dies "sehen” würden. Unabhängig von der bewundernswerten kognitiven Spezial-Leistung dieser (in vielen sonstigen Bereichen völlig zurückgeblieben) Menschen und der Herausforderung an die Psychologie ist für unseren Zusammenhang die Frage wesentlich: Was in aller Welt (und auch das ist durchaus wörtlich zu verstehen) bedeuten Primzahlen, daß zwei debile Autisten ihre Primzahlhaftigkeit sehen können? Was auch immer genau mit "sehen” gemeint sein mag, diese Zahlen müssen offenbar etwas in der Welt widerspiegeln, das sie von anderen abhebt, und was jenseits der Kulturleistung "Mathematik” erschaubar ist.

Auch Pauli postulierte die Existenz einer kosmischen Ordnung, die unabhängig von unserem persönlichen Standpunkt und jenseits der Welt der Phänomene angesiedelt ist. Die Forschungen im Bereich der Quantenmechanik legten nämlich ebenfalls die Annahme solcher zugrunde liegenden, nicht manifestierten Grundprinzipien nahe, nämlich Elementarteilchen (heute sogar beispielsweise die "Quarks"), die Materie zwar konstituieren, aber für die keine komplette Raum-Zeit-Beschreibung möglich ist.

Vor dem Hintergrund unserer bisherigen Erörterungen könnte man die gemeinsame Grundfrage von Pauli und Jung so skizzieren: Macht es Sinn, jene Strukturierungsprinzipien, die der physikalischen Welt, so wie wir sie erkennen, zugrunde liegen, von den Strukturierungsprinzipien zu unterscheiden, welche den psychischen bzw. kognitiven Welten zugrunde liegen? Ist es da nicht vielmehr sinnvoll und sparsamer, zumindest als Hypothese, in beiden Bereichen von denselben Strukturierungsprinzipien auszugehen? Da Psyche und Materie in ein und derselben Welt auftreten und darüber hinaus in kontinuierlichem Kontakt miteinander stehen, scheint es nicht nur plausibel, sondern sogar wahrscheinlich, daß Psyche und Materie zwei unterschiedliche Aspekte derselben zugrunde liegenden Prinzipien seien. Jungs Begriff des "unus-mundus" ist in diesem Sinne zu verstehen.

Es ist hier eine gute Gelegenheit kurz das Konzept der "Synchronizität” anzuführen. Jung selbst benutzte zum ersten Mal diesen Begriff in einem Beitrag zu Ehren von Richard Wilhelm, indem er die operativen Prinzipien des "I Ging” erläuterte. Er verstand darunter das gemeinsame Auftreten von zwei nicht-kausal verbundenen (gemeint ist hier "kausal" im Sinne der klassischen Physik) Ereignisse, die eine gleiche oder ähnliche Bedeutung haben. Somit gehören dazu zwei Faktoren:

a) ein unbewußtes Bild wird bewußt, und zwar indirekt oder indirekt in Form eines Traumes, einer Idee oder dgl.

b) eine objektive Situation steht in Koinzidenz mit diesem Inhalt.

Damit im Zusammenhang unterschied Jung drei Arten von Synchronizität:

1. Koinzidenz eines psychischen Phänomens mit gleichzeitigem objektiven externen Ereignis

2. Koinzidenz eines psychischen Phänomens mit einem externen Ereignis, das gleichzeitig in der Zeit, aber räumlich entfernt auftritt und

3. Koinzidenz eines psychischen Phänomens mit einem externalen Ereignis, das in einer zeitlichen Distanz stattfindet.

Im Dialog mit Pauli erfährt das Konzept der Synchronizität (gerade vor dem oben gesagten) eine Präzisierung: Archetypen sind demnach die Strukturierungs- prinzipien des "unus-mundus", die, sofern sie in der Realität der Psyche operieren, dynamische Organisatoren von Bildern und Ideen sind, auf der anderen Seite, während sie im Realitätsbereich des Physischen operieren, für deren Ordnung von Energie und Materie zuständig sind. Insofern wird auch sofort verständlich, daß "Koinzidenz" schlicht bedeutet, daß ein Archetyp in beiden Realitätsbereichen gleichzeitig wirksam wird.

Archetypische Ordnung und moderne Systemtheorie

Für Paulis Interesse an den Archetypen war, wie bereits erwähnt, wohl mit ausschlaggebend, daß er eine Ähnlichkeit sah zwischen seinen Träumen, die voller physikalischer Begriffe und Symbole waren, und physikalischen Abhandlungen des 17. Jahrhunderts. Besonders beeindruckte ihn dabei Kepler, obwohl damals die wissenschaftlichen Begriffe noch relativ unterentwickelt waren.

Interessanterweise hat Kepler (1571-1630), der auf der Schwelle zur heutigen abendländischen Wissenschaft stand, auch durch die moderne Systemtheorie eine Aufwertung erfahren. Kepler nahm nämlich an - in Übereinstimmung mit archaischen Vorstellungen, die über zwei Jahrtausende zurück bis in die griechische Antike (Pythagoras) reichten - daß der Aufbau der Welt auf harmonische Strukturen zurückzuführen sei. Diese sollten sich wiederum in der Mathematik, besonders der Geometrie, widerspiegeln. "Die Geometrie ist das Urbild der Schönheit der Welt” betonte er.

Diese Harmonie entdeckte er im "mystericum cosmographicum” (1594) in Bezug auf die Planetenbahnen: Deren Relationen verhalten sich ja tatsächlich grob so, wie die Kugelradien der fünf Platonischen Körper - jener Körper, die von gleichen Flächen begrenzt werden, wie Würfel (Quadrate), Tetraeder (Dreiecke), Dodekaeder (Fünfecke) etc. Auch in seiner späteren Revision, den "harmonices mundi” (1619), in der Kepler die Kreisbahnen durch Ellipsen ersetzt, betonte er, daß in diesen exzentrischen Bahnen die himmlischen Harmonien noch besser zum Ausdruck kommen, als in den Proportionen der Kreisradien.

Solche Vorstellungen von Harmonie wurden durch die moderne Wissenschaft zunächst scheinbar ad absurdum geführt. Denn die Leistung Newtons wird gerade darin gesehen, daß er die Keplerschen Gesetze der Planetenbewegungen aus allgemeinen Bewegungsgleichungen ableitete. Nach Newtons "principia mathematica” (1687) gibt es keine ausgezeichneten Bahnen: Sofern sie seinen mathematischen Prinzipien genügen, sind alle möglichen Planetenbahnen gleich gültig: Wenn die Formel für die Konstruktion einer Ellipse bekannt ist, kann man auf einem Blatt Papier um einen Brennpunkt Ellipsen in beliebiger Entfernung malen. Es gibt keinen Grund, warum bestimmte Entfernungen "harmonischer” sein sollten als andere. Laplace sprach daher auch abfällig von der "grillenhaften Spekulation” Keplers.

"Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Auf überraschende Weise ist Kepler wieder aktuell geworden”, betonen die beiden mathematischen Physiker Richter und Scholz in einer Arbeit über den "goldenen Schnitt in der Natur”. Die moderne Chaos- und Systemtheorie hat nämlich gezeigt, daß aufgrund der Rückkopplungen zwischen den Planeten sehr wohl bestimmte Proportionen vor anderen ausgezeichnet sind. Sofern Resonanzen entstehen, können sich die Effekte aufschaukeln und das Gesamtsystem dann eher instabil werden lassen. Dies wird z. B. am Saturnring deutlich: Der Ring besteht aus Myriaden den Saturn umkreisenden Gesteinsstücken. Bei genauer Betrachtung weist er in bestimmten Abständen aber Lücken auf. Es zeigt sich, daß diese Abstände Resonanzzonen sind, d.h. daß in diesen Zonen kreisende Stücke mit dem Saturnmond Mimas in Resonanz treten und instabil würden (bzw. im Laufe der Evolution des Planetensystems: instabil geworden sind). Diese Zonen sind daher von Teilchen leergefegt. Ebenso sind im Asteroidengürtel (winzige Planeten zwischen Mars und Jupiter) jene Zonen leer, die mit der Jupiterbahn durch allzu einfache Schwingungsverhältnisse in Resonanz treten würden. Im Gegensatz zu Newtons Vision seiner überall gültigen Bewegungsgleichungen ist den Himmelskörpern Keplers "harmonices mundi” also keineswegs gleich-gültig (obwohl die Homogenitätsannahme - d.h. die Gleichgültigkeit - abendländischer Wissenschaft sogar zunehmend unseren Alltag prägt, und z.B. nicht nur in Form von Spanplatten, Beton und Formfleisch ihre Umsetzung erfährt, sondern auch in der Musik durch die Einführung 12 gleicher Halbton-Abstände die Individualität der Tonarten der 'wohltemperierten' Stimmung vernichtete und mit der nun "gleichschwebenden Temperatur” erreichte, daß es nahezu gleichgültig ist, in welcher Tonart man spielt).

1978 erst konnte der Plasmaphysiker John Greene zeigen, daß Bewegungen mit dem sogenannten "goldenen Schnitt” als Frequenzverhältnis die größtmögliche Stabilität gegenüber störenden Einflüssen aufweisen. Der "goldene Schnitt” spielte auch in Überlegungen Keplers eine wichtige Rolle - zumal er sich auch noch durch die Zahlenreihe ½, 2/3, 3/5, 5/8 ... approximieren läßt. Dies aber entspricht den Tonintervallen Oktave, Quinte, große und kleine Sext - wozu Kepler ausrief: "Es sind also die Himmelsbewegungen nichts anderes als eine fortwährende mehrstimmige Musik (durch den Verstand, nicht das Ohr faßbar).”

Bei solchen Überlegungen zur Stabilität und Instabilität von Strukturen, bei den Betrachtungen zur fraktalen Geometrie (besonders Julia- und Mandelbrotmenge), beim deterministischen Chaos, Fragen der Emergenz (also Entstehung von Struktur aus mikroskopischem Chaos) - kurz: bei den zentralen Fragen moderner Systemtheorie steht die sog. "iterative Abbildung” (oder "Rückkopplung”) im Zentrum: Eine und dieselbe Operation wird wiederholt ausgeführt, wobei der Ausgabewert eines Zyklus dem nächsten als Eingabewert dient. Es handelt sich somit um ein diskretes Mapping. Nach Vorarbeiten von Poincaré vor über hundert Jahren wurden durch Julia und Fatou 1917 diese Mappings zwar grundlegend beschrieben, spielten aber bis zur "Wiederentdeckung” im Rahmen der Systemtheorie (und besonders durch Mandelbrot) erst nach der Verbreitung des Computers ab den späten 60er Jahren eine zunehmende Rolle.

Bemerkenswerterweise steht auch die Konzeption der Archetypen bei Jung und Pauli in engster Verbindung zur modernen System- und Chaostheorie. In einem Brief von Pauli an Jung vom 27.2.1952 heißt es: "Im Frühjahr 1951 flog mir in einem Traum das (der Mathematik entnommene) Wort 'Automorphismus' zu. Es ist dies ein Wort für die Abbildung eines Systems auf sich selber, für einen Prozess also, in welchem sich die innere Symmetrie, der Beziehungsreichtum (Relationen) eines Systems offenbart. In der abstrakten Algebra gibt es auch 'den Automorphismus erzeugende Elemente' (wie ich hier nicht weiter ausführen kann) und diesen entsprechen in der Analogie wohl die 'Archetypen' als anordnende Faktoren, wie Sie diese 1946 definiert und aufgefaßt haben.”

"Automorphismus” ist aber genau das, was wir heute "iterative Abbildung” nennen. Und, nachdem Pauli betont, daß "das Wort 'Automorphismus' wie ein 'Mantra' gewirkt hat”, fährt er fort: "So erscheint mir mit dem Oberbegriff 'Automorphismus' hier die Möglichkeit eines weiteren Fortschritts zu liegen, besonders da er einer (in Bezug auf Physis und Psyche) neutralen Sprache angehört und da er auch eine Komplementarität von Einheit und Vielheit ... andeutet.”

Ebenso heißt es im Brief vom 27.2.53 Paulis an Jung u.a.: "Es wird die Verallgemeinerung eines Naturgesetzes vorgenommen durch die Idee einer sich selbst reproduzierenden 'Gestalt' des psychischen oder psychophysischen Geschehens, auch 'Archetypus' genannt. Die hierdurch zustande kommende Struktur des Geschehens kann als 'Automorphismus' bezeichnet werden..”

Pauli war leider nicht vergönnt zu erleben, wie rund ein Jahrzehnt später, durch das Aufkommen der Computer, die moderne Chaos- und Systemforschung begann, die heute immer mehr Wissenschaftler in ihren Bann zieht. Und es ist nicht zuletzt der Automorphismus, der hier Physiker und Psychologen wieder ins Gespräch miteinander bringt: Wie ich anfangs ausführte, spielen attrahierende Dynamiken und die Stabilisierung iterativer Vorgänge auch bei an Systemtheorie interessierten Psychologen - zu denen auch ich mich zähle - eine wichtige Rolle.

Abschließend sei noch erwähnt, daß auch der "Ring i”, der bei Pauli eine große Rolle spielt (nicht nur am Ende seiner "Klavierstunde” sondern auch im Zusammenhang mit den "Pauli-Matrizen”, für die er den Nobelpreis erhielt), auch bei den iterativen Abbildungen sehr bedeutsam ist: sowohl Juliamengen als auch die Mandelbrotmenge entsteht ja durch iterative Abbildungen in der Ebene der komplexen Zahlen. Die "einfachste” Julia-Menge, mit zn+1 = zn2 ist bekanntlich der Ring i, der zugleich die Grenze zwischen dem Gebiet bildet, das durch den Attraktor (0,0) beherrscht wird und dem Gebiet, für das der Attraktor ist. Betrachtet man die sog. "inverse Iteration” (was einem "Rückwärtslaufen” der Dynamik entspricht) ist diese Julia-Menge, und damit der Ring i, sogar der Attraktor. Bedenkt man, daß nicht nur über ii = e-©/2 die imaginäre Einheit i mit der Kreiszahl © und der Zahl e verbunden ist, sondern über die Riemannsche Zetafunktion i auch mit der Primzahlverteilung verbunden ist, lassen sich Ordnungen und Zusammenhänge vermuten, die im Detail sicher noch nicht verstanden sind. Wenn Hans Primas die Frage aufwirft: "Nicht nur der Laie auch der nachdenkliche Mathematiker wird sich wundern: warum muß man, wenn man die Primzahlen verstehen will, die imaginäre Einheit i einführen?”, und wir uns an den o.a. Fall der Primzahl-”sehenden” autistischen Zwillinge erinnern, ahnen wir, daß der Dialog zwischen Physik (und Mathematik) und Psychologie noch nicht beendet ist, und die Frage nach archetypischen Ordnungen uns noch viele Rätsel aufgeben wird.