Publiziert in: Ärztliche Praxis: Neurologie Psychiatrie (1999):

Jürgen Kriz

Chaos, Angst und Ordnung

Wie aus der Notwendigkeit zur Struktur Zwangsordnung entstehen kann

Chaos ist nicht nur ein Fachbegriff in der heutigen interdisziplinären Systemforschung. Auch in der Psychopathologie und -therapie ist Chaos seit langem ein Thema. Geht man von der Perspektive aus, daß Chaos etwas Ursprüngliches ist, dem Ordnung erst abgerungen werden muß, läßt sich die Frage stellen: Wie schaffen wir sogenannte normale Erwachsene es eigentlich, das Angst machende Chaos zu bannen um Sinn und Ordnung in dieser Welt zu (er-) finden? Und was ist ggf. der Preis dafür?

In der Öffentlichkeit ist "Chaos” längst zum Modebegriff geworden. Populäre Filme, wie z.B. "Jurassic-Park” mit dem kritisch-mahnenden Chaos-Forscher, oder die Faszination bunter Fraktale (von denen einige Bilder auch diesen Beitrag schmücken) tragen dazu bei. Sie sind allerdings nur ein schwacher Widerhall einer Fachdiskussion, in der Wissenschaftler vieler unterschiedlicher Disziplinen aus überraschenden Einsichten und Zusammenhängen ein neues Weltbild entstehen lassen (s. Kriz 1992, in dem auch der Zusammenhang zwischen Chaos und Fraktalen erläutert wird).

Nur scheinbar unabhängig davon ist Chaos seit langem auch ein Begriff in der Psychopathologie und -therapie: Von C.G. Jung bis zur modernen phänomenologischen Diskussion über Schizophrenie finden wir die Bedrohung menschlichen Erlebens durch chaotische Zufälligkeit thematisiert. Viele Kliniker beschreiben die namenlose Angst, die den Menschen packt, wenn er sich dem Chaos, dem Unvorherseh- und Unvorhersagbaren, ausgeliefert erlebt. Es ist daher verständlich, wenn der Mensch gegebenenfalls noch seine letzten Kräfte mobilisiert, um sich drohender Strukturlosigkeit entgegenzustemmen - wie viele Fallgeschichten zeigen. Er versucht dann notfalls, dem Chaos zumindest einen Rest von Ordnung abzuringen. So wird z.B. die Spaltung der Objektbeziehungen in "gut” und "böse” bei Borderline-Störungen als "urtümlicher Versuch des Menschen, seine widersprüchlichen Erfahrungen innerlich abzubilden und gleichzeitig zu ordnen, dem Chaos eine Struktur zu geben” gedeutet (Rohde-Dachser, 1986: 136).

Ordnung muß somit dem Chaos erst mühsam abgerungen werden. Geht man der Frage nach, wie dies geschieht - und was ggf. der Preis für diese Ordnung ist - so verweist ein erster Antwortschritt auf die Phylogenese: Das Programm des Lebens beinhaltet nämlich, der unendlichen Komplexität einer einmalig ablaufenden Welt-Evolution, dem Chaos, dadurch Ordnung abzuringen, daß Regelmäßigkeiten ge- und erfunden werden. Mit dieser gleich noch näher auszuführenden These befinde ich mich in guter Gesellschaft mit Forschern wie Friedrich Cramer, langjähriger Direktor am Göttinger Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin: Er spricht bei Prozessen des Lebens, wie der Proteinbiosynthese bis hinauf zu komplexen biologischen Vorgängen, ja, sogar bis hin zu den kognitiven Schöpfungen wie Kunst und Ästhetik, von "Chaosvermeidungsstrategien”, und er betont: "Ordnung, Formenbildung, Schöpferkraft sind das Resultat einer inhärenten Chaosvermeidung, im Kosmos wie auch im Leben des einzelnen” (Cramer 1988: 268).

Die (Er-)findung von Regelmäßigkeit beruht im wesentlichen darauf, daß der eben angedeutete, unendlich komplexe Prozeß extrem reduziert wird, indem nur wenige Variablen herausgefiltert werden. Wenn z.B. Leben "niederster” Form den Welt-Prozeß nur auf die Variable "Licht” reduziert, dann entstehen durch die Tatsache daß "Licht” an- und nach einiger Zeit wieder ausgeht, so etwas wie die Kategorien "Morgen” und "Abend” und damit die Basis für eine Regelmäßigkeit. Genau betrachtet war kein "Morgen” in der Geschichte dieses Universums einem anderen völlig gleich, kein "Abend” war mit einem anderen wirklich identisch. Indem aber die Unvergleichbarkeit der Morgende auf "Wiedererscheinen von Licht” reduziert wird, sind hinsichtlich dieses Aspektes eben alle Morgende einander gleich (man spricht daher von phänomenologischen Äquivalenzklassen).

Diese Art der Welt-Erkenntnis durch Reduktion ist offenbar so grundlegend und wichtig für Leben überhaupt, daß es schon in einfachster Form nicht nur diese (fiktive und abstrahierte) Abfolge von Morgenden und Abenden evolutionär konstituiert hat, sondern auch viele weitere Regelmäßigkeiten - z.B. Ebbe/ Flut, Frühling/ Sommer/Herbst und Winter, usw. Der Vorteil, in einem einmaligen Prozeß die Abfolge von Kategorien und somit Regelhaftigkeit auszumachen, liegt darin, daß dabei zugleich Voraussagbarkeit und Planbarkeit ermöglicht und somit Unsicherheit im Umgang mit der Welt verringert wird.

Auch beim Menschen gibt es längst vor jeder Begrifflichkeit und Sprache evolutionäre Programme zur Chaosvermeidung durch Reduktion. So hat z.B. die Gestaltpsychologie herausgearbeitet, wie stark unsere Erfahrung der Welt bereits auf unterster Wahrnehmungsebene aktiv organisiert ist, indem Reize zu Gestalten strukturiert werden: Punkte auf dem Papier werden "automatisch” zu Mustern und Bildern geordnet, eine Abfolge von Tönen wird, wenn irgend möglich, als eine "Melodie” wahrgenommen, und die Einzelteile (Punkte oder Töne) erhalten innerhalb dieser Ordnungen oft eine neue und spezifische Bedeutung - z.B. ergibt sich so das Phänomen "Leitton” einer Melodie. Auch zur Erfindung von komplexeren Ordnungsstrukturen gibt es Befunde in zahlreichen Varianten. So können z.B. bewegte geometrische Figuren unter bestimmten Bedingungen den zwingenden Eindruck von typischen "sozialen Beziehungen” bzw. "kausalen Verursachungen” hervorrufen.

Beim Menschen ist allerdings bedeutsam, daß er die evolutionär-biologisch erworbene Erkenntnis von Regeln individuell bzw. sozial überformen und zudem völlig neue Regelbereiche erfinden kann. Diese dienen besonders der individuellen Anpassung an die persönlichen Lebensverhältnisse im engeren Sinne.

Denken wir an die eingangs erwähnten klinischen Beschreibungen, so ist diese Etablierung von Ordnung offenbar not-wendig: denn sie wendet die unfaßbare Not, der wir im Erlebenschaos ausgeliefert wären. Psychotische Einbrüche, Angstträume, usw. lassen uns, als nur leichte Vorstufen, erahnen, wie eine Welt ohne jede kognitive Ordnung für uns wäre. Daher sollten wir die positive Seite der Ordnung durchaus würdigen: Die Reduktion eines komplexen, einmaligen Prozesses in regelhaft wiederkehrende Klassen von Phänomenen strukturiert das Chaos, ermöglicht Prognosen reduziert damit die Unsicherheit und schafft so Verläßlichkeit. Und diese verläßliche Ordnung begleitet uns von den ersten Lebenstagen an.

Ein typisches Beispiel für diese kombinierte Vermittlung von Ordnung und Vertrauen sind die in aller Welt gesungenen Schlaflieder. Sie sind der Inbegriff von Regelmäßigkeit und weisen üblicherweise einfache, wiederkehrende Tonfolgen auf. Besungen wird der aufgehende Mond, die Sterne, das kommende Erscheinen der Sonne - also das offenbar Wiederkehrende und Prognostizierbare. Kinder hören beim Einschlafen zudem gern jene Lieder, die sie ohnehin schon oft gehört haben - aber wehe, man bringt eine Veränderung hinein! Nicht das Neue ist zur Beruhigung gefragt, sondern das, was immer und immer wiederkehrt. Daß genaugenommen jeder Gesang eine Welt-Uraufführung ist - einmalig, ganz genau so noch nie dagewesen und nie wiederkehrend, wie jeder Abend und jeder Morgen und wie alles, was unser Leben angeht - genau dieser Aspekt spielt keine Rolle. Sondern das Gemeinsame, das Gleiche, eben das Vertraute, wird abstrahiert. Alles ist dann so sicher, so vertraut, daß man schon gar nicht mehr so genau hinhören muß und wie das Kind sanft einschlummern kann.

Doch diese Etablierung von Vertrautem und Gewohnten kann in anderen Situationen etwas höchst Gefährliches haben: Wenn man dort die gesprochenen Worte und die Situation nur nach dem längst Vertrauten und Bekannten absucht und innerlich oder äußerlich reagiert mit: "Ach - das kenne ich ja schon!”, wenn man beim dritten Wort bereits abschaltet, den eigenen Gedanken nachhängt und gar nicht mehr auf das Neue hört, dann ist oft Ärger vorprogrammiert. Wer kennt nicht den vorwurfsvollen Ausruf: "Mensch! Du hörst mir ja gar nicht zu!” oder: "Du hörst mir gar nicht richtig zu!” Und damit zeigt sich die andere Seite der Ordnungs-Medaille: Die Reduktion zu allzu Vertrautem verschließt uns nämlich gleichzeitig den Blick auf die Einmaligkeit der Lebensprozesse. Und im Gegensatz zur Situation, in der im Schlaflied das Vertraute beschworen wird, legen unsere Partner und andere Menschen in vielen Situationen Wert darauf, daß ihre Worte den Charakter von "Welt-Urauführungen” haben. Wenn wir uns darauf nicht einlassen, dann findet statt einer Begegnung ein Austausch von Floskeln, ein Abspulen eingefrorener Rituale statt. Unser Gegenüber fühlt sich dann zu Recht nicht als er selbst wahrgenommen, sondern als geradezu beliebig austauschbares Objekt mißbraucht, das nur unsere eigenen Schemata in Gang setzt.

Daß aber wohl jeder solche Situationen kennt, zeigt, wie wirksam dieser Mechanismus ist, der uns die Erfahrungswelt vor allem nach Regelmäßigkeiten absuchen läßt. In der Tat ist der selbe Vorgang, der Ordnung und Sicherheit schafft - nämlich die Reduktion auf vertraute Kategorien - gleichzeitig der Totengräber für Kreativität und Veränderung. Und hier kann nun auch die unnötige, die Zwangs-Ordnung, beginnen. Dies soll nochmals an der Kategorie "Morgen” verdeutlicht werden.

Wenn jemand sagt: "Ich bin diese Woche jeden Morgen um 7 Uhr aufgestanden, habe mit meiner Frau gefrühstückt” usw., hält er sich dabei nicht nur an die gesellschaftliche Zergliederung der Zeit in "Tage” und "Stunden” (mit einer a-biologischen Genauigkeit bzw. "Pünktlichkeit”). Vielmehr vernachlässigt er die vielen sinnlichen Aspekte, die jeden Morgen in seiner Einmaligkeit erfahrbar machen.

Natürlich benötigt man vor allem im Alltag sprachliche Reduktionen und Kategorien wie "Morgen” um sich schnell zu verständigen. Wesentlich ist aber die Frage, ob mehr als eben nur kategorielle "Morgende” wahrgenommen und erlebt werden. Oder ob zumindest - bei größerer Ruhe - mehr und anderes erlebt werden kann. Sofern aber die sinnliche Vielfalt und Komplexität auch erlebensmäßig auf Kategorien wie "jeden Morgen” kurz nach 7 "gefrühstückt” reduziert wird, sollte es uns nicht wundern, wenn die Welt sowohl sinn-loser erscheint, als auch "jeden Abend” immer "derselbe Streit” um immer "dieselben Probleme” entsteht. Derselbe Reduktionsvorgang zu (zu) wenigen und zu (zu) starren Kategorien greift dabei dann auch bei der Strukturierung der sozialen Welt. "Immer dieselbe Leier” mit dem Partner, den Kindern etc. kann nun ablaufen - das tägliche Brot der Familientherapeuten.

Als Therapeuten finden wir diese Verarmung im Erleben, bei nicht wenigen Menschen, die uns gegenüber sitzen. Allerdings: Wer könnte schon von sich behaupten, ihm ginge dies nicht zumindest ansatzweise ähnlich.

Die Möglichkeiten, der "Welt” zu begegnen, lassen sich somit zwischen zwei Polen einordnen: Auf der einen Seite, im Extrem, finden wir das Chaotische, Unvorhersagbare, Hochkomplexe. Und je mehr wir uns auf die Einmaligkeit von Prozessen einlassen, desto weniger haben wir Kategorien zur Hand und können Prognosen aufgrund der "Regelmäßigkeiten” anstellen; und desto eher sind wir damit der Angst vor Unberechenbarkeit und Kontrollosigkeit ausgeliefert. Aber desto weniger reduziert ist auch unsere Erfahrung, die nun eher die Wahrnehmung von Neuem, Überraschendem und Kreativem zuläßt.

Auf der anderen Seite, im Extrem, finden wir die reduktionistische Ordnung. Und je mehr wir auf dieser anderen Seite kategorisieren und Regelmäßigkeiten (er-)finden, desto planbarer, prognostizierbarer und damit sicherer wird unsere Welterfahrung; doch desto starrer, langweiliger, reduzierter und gleichförmiger erscheinen uns die so behandelten "Dinge”.

Seinen jeweiligen Standort im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen "Chaos” und "Ordnung” findet der Mensch nun natürlich nicht allein. Vielmehr wird er durch die Sinndeutungen und Interaktionsstrukturen der Gesellschaft wesentlich mitbestimmt. Und es ist bekannt, daß speziell der abendländischen Kultur eine besonders starke Tendenz zur Ordnung, zur Reduktion und zur Verdinglichung von Prozessen nachgesagt wird.

Die Tendenz, das natürliche Sicherheitsbedürfnis des Menschen allein und einseitig über die Kontrolle von Ordnung zu befriedigen, zeigt sich vor allem in den menschlichen Beziehungen - im Umgang mit sich selbst, mit den anderen Mitmenschen und mit der Welt insgesamt. An anderer Stelle (Kriz 1997) wurde ausgeführt, wie die moderne Wissenschaft als Ordnungs-Ideologie aus der Perspektive der Angstabwehr rekonstruiert werden kann. Und es wurde dort die Frage aufgeworfen, ob "Psychotherapie, die auch die schöpferische Seite des Chaos nutzt, als Wegweiser für eine lebensgerechtere Wissenschaft” dienen könnte.



Literatur


Cramer, F. (1988). Chaos und Ordnung. Die komplexe Struktur des Lebendigen. Stuttgart: DVA

Kriz, J. (1992) Chaos und Struktur. Weinheim: Quintessenz

Kriz, J. (1997) Chaos, Angst und Ordnung. Wie wir unsere Lebenswelt gestalten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht

Kriz, J. (19982) Systemtheorie: Eine Einführung für Psychotherapeuten, Psychologen und Mediziner. Wien: WUV

Rohde-Dachser, C. (1986). Das Borderline-Syndrom. Bern-Stuttgart: Huber